27. When I'm gone

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Dezember 2005, Detroit

Nachdem ich die Kinder bei Proof und Sharonda abgesetzt hatte, steuerte ich den großen Geländewagen auf den Parkplatz vor Marshalls Studio. Dicke weiße Schneeflocken bedeckten die Windschutzscheibe nur Momente nachdem ich den Wagen geparkt hatte. Ich wickelte mir meinen dicken Schal um den Hals und griff nach meiner Handtasche bevor ich den Wagen verließ. Schnell überquerte ich den Parkplatz und drückte die schwere Glastür zum Eingangsbereich auf. Es war erst halb vier nachmittags, aber die Sonne war schon fast völlig verschwunden. Kurz drehte ich mich um und warf einen Blick auf die Autos auf dem Parkplatz. Nur Marshall und zwei Soundtechniker schienen hier zu sein. Mir wäre es lieber gewesen, wenn Marshall sein Studio bei sich zu Hause benutzt hätte, aber ich konnte ihn auch verstehen, dass er einfach mal raus musste. In den letzten Tagen hatten Nate, Proof und ich eine Art Schichtsystem entwickelt, in dem Marshall nie alleine war. Einer von uns war immer an seiner Seite. Ich merkte ganz genau, wie sehr Marshall von unserer Aufpasserei genervt war, aber nach seinem Krankenhausaufenthalt hatte er jegliches Mitspracherecht verloren. Mein Magen zog sich bei dem Gedanken zusammen, dass er nach New Years in den Entzug gehen würde. Ich hatte ihm versprochen, dass ich solange in Detroit bleiben würde, wie er und die Mädchen meine Hilfe brauchten. Ich wollte nicht, dass die Mädchen zu Kim's Mutter geschickt wurden und noch mehr aus ihrem normalen Leben gerissen wurden, als es eh schon passierte. Im Moment war nichts mehr normal. Außer vielleicht unser morgendliches Frühstück, das war's dann aber auch schon. 2005 war ein beschissenes Jahr gewesen, aber 2006 sollte für uns alle einen Neustart bedeuten und nicht so verkorkst starten wie 2005 aufhören würde. Marshall hatte mich nicht gefragt, ob ich bei den Kindern bleiben würde, ich hatte es einfach beschlossen und auch keinen Wiederspruch zugelassen. Im Empfangsbereich von Shady Records lächelte mir Laura entgegen und wünschte mir einen guten Tag. Ich nickte ihr nur zu und lief in Richtung des Fahrstuhls. Ich musste mich hier nicht mehr ausweisen, alle wussten wer ich war. Und trotzdem hatte noch niemand der Presse von meinem Besuch in Detroit erzählt. Laut TMZ versteckte ich mich noch immer im Ferienhaus meiner Eltern im Schwarzwald, während ich eigentlich schon seit vier Wochen in Detroit war und mich um Marshall und seine Familie kümmerte. Marshall konnte Paul und seinem Team echt dankbar sein, dass alle so gut dichthielten in London wäre das nicht passiert.

Mit einem lauten Ping öffneten sich die Aufzugtüren und ich trat auf den langen Flur. Die Absätze meiner Schuhe sanken leicht in den roten Teppich ein während ich mit entschiedenen Schritten den Flur entlang ging, vorbei an Marshalls Gold- und Platinschallplatten, dem Oscar und seinen unzähligen Grammys und Echos. Hinter einer der Türen auf der linken Seite konnte ich laute Beats hören. Ich atmete tief durch und drehte den kleinen Knauf der Tür um. Der Raum hinter der Tür war nur spärlich beleuchtet. Das meiste Licht kam von einem großen Mischpult, an dem ein großer dunkler Tontechniker saß und seinen Kopf langsam zu Marshalls Stimme und dem Bass bewegte. Der zweite Typ saß ein paar Meter weiter in einem großen Ledersessel und drückte auf einer Beat-Maschine herum. Als ich meinen Blick hob und durch die große Fensterscheibe, die das Tonstudio von der Aufnahme-Kabine trennte, schaute sah ich Marshall mit einem Block vor seinem Mikrofon sitzen und immer wieder kleine Änderungen auf das Papier kritzeln. Die Jungs nickte mir nur zu und konzentrierten sich dann wieder auf ihre Arbeit. Mittlerweile kannte sie mich und störten sich nicht mehr daran, dass ich da war. Nachdem Marshall aus dem Krankenhaus entlassen worden war, wollte er nur zwei Dinge, die Kinder sehen und wieder zurück ins Studio, Proof und ich hatten große Magenschmerzen dabei gehabt Marshall wieder ins Studio zu lassen. Jedoch riet sein Arzt uns dazu ihn machen zu lassen, zwar war die Musik in den letzten Jahren auch ein großer Faktor in seiner Sucht gewesen, aber sie war auch immer ein Ventil für Marshalls Emotionen und Wut gewesen. Also ging Marshall wieder ins Studio. Jeden Tag, nicht lang, aber er war jeden Tag hier. Und er schrieb und schrieb und schrieb. Nur beim Essen und wenn er Zeit mit den Kindern verbrachte hatte er keinen Stift in der Hand. Ich ließ mich auf die große schwarze Ledercouch, die am weitesten von der Glastrennwand entfernt stand, fallen und zog meinen Wintermantel aus. Der Bass und die Streicher des Beats dröhnten mir bis in den Magen und ich schaute Marshall dabei zu wie er immer und immer wieder die gleichen Zeilen rappte und wieder etwas änderte. Seitdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte er wieder etwas Farbe bekommen, seine Augen wirkten nicht mehr ganz so stumpf als noch vor ein paar Tagen. Sie hatten das Strahlen verloren, dass mir immer ein Kribbeln im Bauch gab. Seine Haare waren länger, als ich es von ihm gewöhnt war und ich versuchte mir jede seiner Bewegungen ein zu prägen, um mich daran zu erinnern, wenn er in die Entzugsklinik gehen und uns für mindestens 30 Tage alleine lassen würde. Mein Magen zog sich bei dem Gedanken, dass ich ihn auch fast verloren hatte, zusammen. Vor knapp einem Jahr hatte ich hinter Harrys Sarg hergehen müssen, mit meinen zwei kleinen Söhnen und seinem dritten Kind unter meinem Herzen. Und jetzt saß ich hier, eine halbe Welt und ein ganzes Leben entfernt in Detroit und hatte einen erste Reihe Platz bei Marshalls persönlichem Kampf gegen sich selbst und die Drogen. Ich versuchte die Wut gegenüber Marshall weg zu drücken. Meine Gefühle spielten im Moment keine Rolle. Er war wichtig und dass es ihm besser ging. Ich konnte nicht noch einen Menschen verlieren, der mir so nah war. Trotzdem fanden die Zweifel auch dieses Mal ihren Weg in meine Gedanken. Zweifel darüber was das mit Marshall und mir überhaupt und war und ob es irgendetwas werden konnte. Zweifel darüber was von seiner Zuneigung mir gegenüber noch da sein würde, wenn die Drogen endgültig aus seinem System verschwunden waren und es wirklich nur noch Marshall war. Ungefiltert und roh. Fragen darüber, wie viel von seinen Worten und Taten, mir gegenüber, die Drogen und welche Marshall gewesen waren. Unsere langen und tiefen Gespräche in Hawaii traten vor mein inneres Augen, all die nächtlichen Anrufe nach Harrys Tod, wie er mich zum ersten Mal geküsst hat, als er meine Hand nach Torries Geburt gehalten hatte und die Abende in Südfrankreich nachdem die Kinder ins Bett gegangen waren. War das alles nur eine Lüge? Eine Verzerrung von Marshalls Ich, dass erst durch die Drogen entstanden war. War da überhaupt noch Platz in seinem Leben für mich, wenn die Drogen weg waren? Und konnte ich das überhaupt? Hatte ich genug Kraft mich nicht nur um drei, sondern sechs Kinder alleine zu kümmern, während er gegen seine Dämonen kämpfte. War ich stark genug für uns beide, wenn er mich brauchte? Konnte und wollte ich ihn dadurch tragen. Und was war mit meinen Kindern, konnte ich es zu lassen, dass Alex, Jona und Torrie sich an einen anderen Mann gewöhnt, nur um vielleicht erneut enttäuscht zu werden. Wenn Marshall den Kampf gegen die Drogen vielleicht doch nicht gewinnen konnte und selbst all meine Unterstützung und Kraft nicht genug waren um gegen seine Sucht anzukämpfen? So viele Fragen ging mir durch den Kopf und ich fühlte mich so alleine. Auf einmal kam mir das Leben im Palast in London doch nicht so schrecklich schwer vor, nein im Gegensatz zu dem was in den letzten Wochen passiert war, waren die Auftritte mit der Queen und Charles ein kleiner Spaziergang. Ich fuhr mir mit den Fingern durch die offenen Haare und fixierte Marshall wieder mit meinem Blick. Er hatte mich noch immer nicht bemerkte und saß vorgelehnt auf seinem Hocker. Die graue Jogginghose und der weite D12Hoodie ließen ihn viel breiter wirken als er eigentlich war. Ich stand auf und ging etwas näher an das Mischpult heran. „You wanna listen?", fragte mich Toni der dickere der beiden Typen und hielt mir ein paar Kopfhörer entgegen. Ich setzte sie auf und einen Moment später dröhnte Marshalls warme Stimme durch meinen Kopf.

Second Chances (Eminem Story)Donde viven las historias. Descúbrelo ahora