Nur einen Horizont entfernt

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Gegenwart

Als der Zug am Gleis hält, schrecke ich aus meinen Gedanken und blinzele. Ich brauche eine ganze Weile, bis ich meine Umgebung klar erkennen und einordnen kann. Ich bin auf dem Weg nach Hogwarts. Oder so gut wie da.
Hogwarts.
Was für ein merkwürdiger Gedanke.
Ron hat den Kopf in die Hand gestützt und blickt aus dem Fenster. Hermine liest - was eine Überraschung.

„Sind wir schon da?" frage ich, obwohl ich die Antwort ganz genau weiß.

Ron steht auf und nickt ohne mir in die Augen zu schauen. Hermine packt ihre Tasche zusammen und betritt hinter ihm den Gang. Da ich nicht weiß was ich sonst machen soll, folge ich ihnen. Unsere Koffer lassen wir zurück; die Hauselfen werden sich darum kümmern.

„Was meinst du, wo ist Harry?"
Hermine späht den Gang entlang. Ron zuckt ratlos die Achseln.
„Vielleicht ist er schon auf dem Gleis. Kommt, lass uns schonmal vor gehen, er findet den Weg auch alleine."
Hermine zögert, tritt mit Ron jedoch hinaus. Ich bleibe weiterhin stehen.
Ich weiß, ich müsste den beiden zum Schloss folgen, doch ich kann mich nicht rühren. Es scheint, als seien meine Beine festgewachsen. Plötzlich ist es, als sei es wieder wie früher. Die Weihnachtsferien sind zu Ende, das zweite Halbjahr hat gerade begonnen und ich bin endlich wieder in Hogwarts.
Es ist, als stünde er vor mir; das dunkle Haar ordentlich gekämmt, die akkurate Schuluniform am Körper und das blitzende Vertrauensschülerabzeichen an der Brust. Er steht nur da und sieht mir unverwandt in die Augen.
Wütend.
Fordernd.
Es braucht keine Worte, um mir klar zumachen, was er will. Solche Momente hatte es oft gegeben, in denen er mich abfing, um mit mir noch Zeit während der Zugfahrt zu verbringen. Es ist nichts weiter als ein Kopfnicken, so kurz, dass ich es mir auch habe einbilden können, welches mich dazu auffordert ihm zu folgen. Ich zögere und werfe einen Blick in das Abteil zu Walburga und Violetta. Meine Abwesenheit wird kaum auffallen; offiziell bin ich noch auf der Suche nach dem Speisewagen. Er dreht sich ohne weiteres um und schreitet lautlos in ein leeres Abteil. Als ich hinter ihm eintrete, zieht er sorgfältig die Vorhänge zu.

Ich schnappe nach Luft und taste mit den Händen nach etwas, an dem ich mich festhalten kann. Meine Knie sind urplötzlich butterweich und ein schreckliches Ziehen durchfährt mich. Als würde ich ins kalte Wasser stolpern, meine Haut kribbelt von Kopf bis Fuß, die gesamte Wirbelsäule entlang. Nach einigen Minuten, in denen ich tief Luft hole, wage ich es mich zu rühren. Die Erinnerung hat mich eiskalt erwischt. Ich nehme noch einen tiefen Atemzug und verlasse dann fluchtartig das Abteil.

Als wir die Schlosstreppe passieren, fliegt das große Eichenportal auf und die Schülerschar drängt uns in die geräumige, beflaggte Eingangshalle, aus der ein lautes Durcheinander von Stimmen und Gelächter herüber weht. Im Torbogen bleibe ich stehen und schließe kurz die Augen, ehe ich mich zu Hermine und Ron umdrehe.

„Ich muss hier auf Professor McGonnagall warten, sie wird mich zusammen mit den Erstklässlern gleich hineinbringen."

Hermine lächelt. „In Ordnung, dann bis nachher, ich hoffe du kommst in unser Haus."

Sie umarmt mich zum Abschied und Ron nickt wieder nur kurz mit dem Kopf. Der überwiegende Teil der Schüler ist bereits in der Halle (Ron, Hermine und ich haben ein wenig Verspätung), doch manche tummeln sich noch im Eingang. Ich stehe am Rand, beobachte wie sich die Schüler an den Haustischen sammeln, bis schließlich unbemerkt und völlig lautlos die Flügeltür zu schwingt.
Jetzt bin ich allein in der alles umfassenden Stille.

„Langsam, nicht rennen! Mr Sherwood! Trödeln Sie nicht so herum, der Sprechende Hut wartet nicht ewig auf Sie!"

Ich fahre herum, als ich die gebieterische Stimme von Minerva höre, die gerade zusammen mit den Erstklässlern die Treppe hinunter geschritten kommt. Sie sieht strenger aus, älter natürlich, mit einigen Falten und grauen Haaren. Ich meine, Erkennen kurz in ihren Augen aufblitzen zu sehen, ehe ihr Blick wieder neural wird. Wie merkwürdig, schießt es mir durch den Kopf, dass das selbe Mädchen vor ihr steht, wie vor fünfzig Jahren. Ich habe mich kein Stück verändert.
Sie stellt sich vor mich, betrachtet mich als wäre ich eins der Erstklässler, die sie begleiten, und streckt mir ihre Hand entgegen, die ich ergreife.

ME AFTER YOU Where stories live. Discover now