Im Schatten unserer Wünsche

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Oktober, 1944

Es war an einem Montagmorgen, als der erste Dominostein meines dunklen Schicksals fiel. Am Abend zuvor hatte unser Haus Slytherin gegen die gegnerische Mannschaft von Gryffindor gewonnen und sich somit den Quidditchpokal ergattert. Der Kapitän unserer Mannschaft hatte zu der darauffolgenden Feier ein Fass Butterbier und mehrere Kisten Feuerwhisky aus seinem privaten Vorrat beigesteuert, wodurch der Abend aus dem Ruder gelaufen war.
Walburga Black, meine Freundin und Sitznachbarin, legte ihren schwarzen Lockenkopf auf den Tisch. „Bei Merlins Bart, ich sterbe."
Ich aß ungerührt meinen Toast. „Man stirbt nicht an einem Kater, Burga."
Sie linste mich unter halbgeöffneten Lidern an. „Aber vielleicht an den Irrwichten, die gerade in meinem Kopf ihr Unwesen treiben. Ich fühle mich so elend."
Ich strich ihr über den Rücken.
Violetta, die uns gegenüber saß, lehnte sich vor. „Du hättest gestern nicht so viel Feuerwhisky mit Avery um die Wette trinken sollen. Anna, dich habe ich auf der Feier gar nicht gesehen."
Ich sah in ihr sommersprossiges Gesicht.
„Ich halte nicht viel vom Feiern und erst recht nicht von Alkohol. Ich habe mich früh schlafen gelegt."
Violetta schob sich ein Stück Rührei in den Mund. „Ein Abend ganz allein während alle anderen sich amüsieren. Ich beneide dich nicht."
„Das sollst du auch nicht."
Ich ließ meinen Blick über die Halle schweifen. Der Tisch der Ravenclaws neben uns summte wie ein geschäftiger Bienenstock. Plötzlich spürte ich einen Blick auf mir ruhen und erschauderte. Meine Augen wanderten über die Schülerschar, auf der Suche nach meinem Beobachter. Dann stockte mir der Atem.
Ich sah geradewegs in zwei dunkelbraune Augen. Die kältesten Augen, die ich je gesehen hatte. Paradox, da sie ein unerschütterliches Vertrauen ausstrahlten. Sie luden geradezu ein, all meine Geheimnisse preiszugeben. Doch der Besitzer besagter Augen versprach alles andere als das. Tom Riddle war die Art von Junge, der für jede Art von merkwürdigen Vorkommnissen erst verantwortlich war. Und niemand auf Hogwarts war seiner Ansicht nach ihm ebenbürtig genug, um sein Interesse zu wecken. Ich wusste nicht viel von ihm, doch die anderen Mädchen hatten mir erzählt, dass er Vertrauensschüler war und ein paar Monate bevor ich nach Hogwarts kam, ein Abzeichen für besondere Dienste im Namen der Schule verliehen bekommen hatte, nachdem die Kammer des Schreckens geöffnet worden war. Riddle war dafür bekannt, dass er den Verantwortlichen gefasst hatte, worauf dieser der Schule verwiesen wurde. Es war furchtbar daran zu denken, dass ein Schüler so etwas schreckliches hatte tun können. Ich war erst sehr spät nach Hogwarts gekommen, nachdem meine Eltern beschlossen, dass es in Deutschland - angesichts des Muggelkrieges, der gerade wütete - nicht mehr sicher war.
Riddles Augen klebten noch immer an mir und er machte keine Anstalten wegzusehen. Als wollte er mich dazu herausfordern ihm stand zuhalten. Und so lieferten sich ein giftgrünes Augenpaar und ein abgrundtief dunkles einen erbitterten Kampf darum, wer der stärkere war. Nach Minuten, in denen keiner von uns beiden den anderen aus den Augen gelassen hatte, hob Riddle eine Augenbraue in die Höhe und verzog seinen Mund zum Ansatz eines Grinsens, dann wanderte sein Blick weiter. Was hatte dies nun zu bedeuten, fragte ich mich und ignorierte das ungute Gefühl in meiner Magengegend. Besser ich ließ mich nicht mehr auf seine Spielchen ein.
Violetta setzte mir eine Tasse vor die Nase.
„Trink, solange er noch warm ist."
Ich sah die Tasse an, den dampfenden Pfefferminztee.
„Hast du das mit Grindelwald gehört? Er soll nun endlich in einem Verließ in Azkaban untergebracht worden sein." sagte sie.
Ich nickte, ohne ihr wirklich zuzuhören.
Sanft tastende Fühler pochten dumpf an meinen Geist und versuchten vorsichtig meinen imaginären Schutzwall zu durchdringen. Die Lippen fest zusammen gepresst, verstärkte ich meine Barrieren. Ich mochte es nicht, wenn jemand in meinen Kopf eindrang und bisher war es auch niemandem gelungen. Nur ein Schüler in Hogwarts besaß die Fähigkeit und obendrein die Kühnheit, so etwas zu vollbringen. Riddle's Augen taxierten meinen Rücken. Kalter Schweiß ran mir den Rücken hinab. Ich zwang mich, ihn nicht anzusehen.
„Annie, hörst du mir zu?" Walburgas Stimme drang aus weiter Ferne an mein Ohr. Sie verzog das Gesicht.
„Entschuldige, was hattest du gefragt?"
Sie knirschte mit den Zähnen. „Der Aufsatz für Professor Slughorn ist morgen fällig und ich habe noch nicht angefangen. Mir fallen einfach keine Sätze ein, die ich schreiben könnte. Bekomme ich ausnahmsweise deinen zum abschreiben?" In ihren blauen Augen lag ein stummes Flehen.
Ich nickte. „Nach dem Mittagessen lege ich ihn dir auf dein Bett."
Unauffällig drehte ich meinen Kopf in Riddles Richtung. Er war in ein angeregtes Gespräch mit Abraxas Malfoy vertieft. Eine dunkle Strähne fiel ihm in die Stirn, der Siegelring an seinem Finger glänzte.
Ich fragte mich, ob er so ignorant war oder sich nach außen nur so gab.
Walburga stand auf und ihre schwarzen Locken wippten mit der Bewegung. „Gleich ist das Frühstück vorbei. Gehen wir zu Zaubertränke?"
Zu dritt verließen wir die Halle.
Den hungrigen Blick, den Tom Riddle mir zuwarf, bemerkte ich nicht mehr.

Meine Bedenken gegenüber Tom Riddle gerieten vorübergehend in Vergessenheit, denn in der kommenden Stunde Zaubertränke blieb sein Stuhl leer. Professor Slughorn war sein Missfallen aufgrund Riddles Fehlen sichtlich anzumerken, doch er verlor kein Wort darüber. Der Unterricht verlief relativ angenehm, wenn es auch schien, als wäre durch Riddles Abwesenheit jegliche Motivation von Slughorn abgefallen. Ich fragte mich, ob er überhaupt zum unterrichten fähig war, wenn sein Lieblingsschüler fehlte. Die Doppelstunde Wahrsagen, die danach anschloss, zog sich wie Kaugummi in die Länge. Ich hatte noch nie viel von dem Fach gehalten und beschloss in dieser Stunde Wahrsagen für das kommende Schuljahr abzuwählen. Wir bekamen die Aufgabe aus den Handflächen unserer Sitznachbarn zu lesen. Ich war mehr als froh, als wir die steinerne Wendeltreppe im dritten Stock Richtung große Halle hinunter eilten.

Nach dem Mittagessen, das Riddle ebenfalls ausließ, machte ich mich auf den Weg zu Verteidigung gegen die dunklen Künste. Trotz Herbst, waren die Temperaturen draußen noch höchst sommerlich und so wurde das Klassenzimmer hoch oben in der Nähe des Ravenclawturms zunehmend stickiger. Walburga lotste mich wohlweislich zu einem Tisch am Fenster. Kaum dass wir uns gesetzt hatten, begann Professor Merrythought schon mit ihrem Unterricht. Ich zog Feder und Pergament hervor und schrieb mir Notizen zum Aufspüren und Vernichten von Werwölfen und Vampiren. Meine Gedanken indes, trugen mich weit fort. Solange ich nach Hogwarts ging, hatte ich von Tom Riddle nicht sonderlich viel Notiz genommen. Es war mir egal gewesen, ob ein Tom Riddle mich angesehen hatte. Ob ein Tom Riddle in meiner Nähe war. Ob ich andere Schüler von Tom Riddle reden hörte. Was also hatte sich nun verändert? Wollte er meine Aufmerksamkeit auf sich lenken? Wo war er heute Vormittag nur gewesen? Niemand abgesehen von mir schien sein Verschwinden zur Kenntnis zu nehmen. Als wäre es schon immer so gewesen. Mein Bauchgefühl täuschte mich nicht. Etwas führte er im Schilde. Und ich wollte herausfinden was.
Ich lehnte mich zu Walburga. Sie hatte die Brauen konzentriert zusammen gezogen, ihre Zunge fuhr immer wieder über ihre Unterlippe. „Was ist?" fragte sie.
„Ist dir auch aufgefallen, dass Riddle ständig im Unterricht fehlt?"
Sie zuckte die Schultern und griff nach einer neuen Rolle Pergament. „Ich weiß nicht. Vielleicht ist ihm auch der Unterricht bei Merrythought zu langweilig. Verübeln kann ich es ihm nicht."
„So etwas muss doch zumindest den Lehrern auffallen." erwiderte ich.
„Ach komm, Annie. Die Lehrer tanzen alle nach seiner Pfeife. Warum interessiert dich Riddle mit einem mal so sehr?" Forsch sah sie mir in die Augen.
„Tut er nicht." wehrte ich ab.
Walburga lachte. „Ich bin deine beste Freundin. Ich merke, wenn etwas mit dir nicht stimmt. Etwas ist anders als sonst."
Eine unserer Tischnachbarinnen stieß einen gedämpften Schrei aus. Als wir uns umdrehten, sahen wir wie Molly Prewett, eine Gryffindor, sich einen klebrigen Papiervogel aus dem Haar zog. Gelächter ertönte aus den hinteren Reihen. Es war klar wer dafür verantwortlich war. Slytherins eben.
Meine Gedanken wanderten zu einem gewissen dunklen Augenpaar, dessen Tiefen mich noch immer gefangen hielten.
„Ehrlich, ich habe keine Ahnung wovon du sprichst."

Da ich meinen Aufsatz für Zaubertränke Walburga geliehen hatte, mir jedoch noch ein Kapitel über den Armortentia fehlte, beschloss ich das Abendessen ausfallen zulassen und stattdessen die Bibliothek aufzusuchen. Um diese Zeit traf man eigentlich niemanden.
Der hohe Saal war dunkel, nur in den Gängen zwischen den Bücherregalen leuchteten vereinzelte Laternen. Zielstrebig schritt ich durch den Raum bis ans hintere Ende, wo ich mein gesuchtes Buch finden würde. Meine Schritte hallten von den Wänden wider. Ich stolperte über einen Teppich, konnte mich aber gerade noch rechtzeitig abfangen.
Als ich die Buchreihen absuchte, stutze ich. Jedes einzelne Buch zu dem Thema Zaubertränke war verschwunden. Stattdessen war das Regal gefüllt mit wahllos zusammen gewürfelten Themenbereichen, von Pflege magischer Geschöpfe bis zur neuesten Ausgabe von Haushaltsführung für Frauen. Auch in den anderen Regalen wurde ich nicht fündig. Ich warf einen Blick auf die Tische und die übereinander gestapelten Bücher darauf. Es gab nicht mal eine annehmbare Alternative.
Wenige Meter hinter mir fiel ein Buch mit einem lauten Klatschen zu Boden. Ich wirbelte erschrocken herum, konnte in der Dunkelheit, die in den hintersten Ecken lauerte, jedoch niemanden erkennen.
Auf Zehenspitzen, den Atem angehalten, tapste ich darauf zu.
Der schwarze Ledereinband war an den Rändern abgeblättert.
Dort stand in goldenen Lettern geprägt,
Die Geheimnisse der dunkelsten Kunst.

ME AFTER YOU Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt