Isabelle

26 6 0
                                    

Unsere Rucksäcke an die Brust gepresst sitzen wir auf einem umgekipptem Baumstamm und beobachten die Unfallstelle auf der Straße. Taylor versucht mich mit Small-Talk davon abzulenken und ich muss sagen, trotz ihrer unbeholfenen Art gelingt es ihr nach einiger Zeit. Schließlich lenke ich meine Gedanken komplett in eine andere Richtung und beginne damit Taylor etwas zu fragen, das mir schon seit geraumer Zeit auf der Zunge brennt. „Sag mal, Australian girl, hast du eigentlich nichts, das du zurücklässt? Oder jemanden?"

Das blonde Mädchen neben mir verfolgt die vorbeifahrenden Autos mit den Augen und beißt sich nachdenklich auf die Unterlippe. „Schon", antwortet sie schließlich. „Meine beste Freundin vor allen Dingen. Ich hatte auch bereits eine Zusage für ein College. Aber weißt du, das Waisenhaus war etwas isoliert von der Außenwelt, darum hatte ich außerhalb davon nie nennenswerte Kontakte."
„Du hattest einen Platz an einem College?"
„Ist das so verwunderlich?"
Ich lache kurz auf. „Nein nein, so war das nicht gemeint. Ich dachte nur, du hättest es schon viel länger geplant deine Mutter suchen zu gehen."
„Achso." Die Australierin lehnt sich vor und stützt ihre schlanken Unterarme auf den Oberschenkeln ab, so als wäre es ihr plötzlich zu anstrengend geworden aufrecht zu sitzen. „Nein, ich weiß das alles noch nicht sehr lange." Sie schweigt einen Moment, dann stützt sie auch noch ihr Kinn auf ihren Händen ab. „Die Sache ist die..."

Und dann breitet sie die ganze Geschichte vor mir aus. Wie sie die Informationen erhalten hatte, was sie daraufhin tat und wie sie schließlich in Deutschland landete.
Wer hätte gedacht, dass derartiger Tatendrang und Entscheidungskraft in dieser ruhigen, eher zurückhaltenden Person stecken würden? Sie wirkt immer so unsicher. Als sie sich dazu entschlossen hat in kürzester Zeit ihr College zu verschieben und selbstständig tausende von Kilometern weit zu fliegen, da schien sie jedoch kein bisschen unsicher zu sein. „Ich hoffe, es hat sich gelohnt all das Geld ausgegeben zu haben und ans andere Ende der Welt gereist zu sein", schließt sie ihre Erzählung.
„Keine Sorge." Irgendwie habe ich das Gefühl dazu verpflichtet zu sein sie aufzumuntern. „Wenigstens bist du jetzt nicht mehr alleine." Mit einem Mal komme ich mir mit meinem Auszug von zu Hause gar nicht mehr rebellisch oder gar mutig vor. Mein Plan war es gewesen zwei Stunden von zu Hause entfernt ein FSJ zu machen, was war das schon im Vergleich zu Taylors Reise?

„Ja", Taylor lächelt leicht und blickt zum ersten Mal in meine Richtung. „Das ist gut."

Es dauert nicht allzu lange bis Sven den Unfall mit der Polizei geklärt hat. Da unser treuer roter Gefährte glücklicherweise auch bloß ein paar Dellen abbekommen hat, beschließen wir die Reise fortzusetzen. Mittlerweile sind wir ohnehin schon beinahe am Ziel. Wir folgen der A16 noch etwa eine halbe Stunde in Richtung Norden, dann tauchen auch bereits die ersten grünen Straßenschilder auf, die den „Tunnel sous la manche" ankündigten, wie der Euro Tunnel auf französisch heißt. Praktischerweise kann man diesen direkt von der Autobahn aus erreichen. Den Ausschreibungen folgend erreichen wir schließlich die französische Grenzkontrolle, anschließend müssen wir sogar noch gleich eine englische Grenzkontrolle passieren. "Stellt euch mal vor, ihr reist aus Frankreich aus, habt aber keine Berechtigung wieder einzureisen und auch keine Reiseerlaubnis für England. Dann müsstet ihr euch einfach auf diesen 5 Quadratmetern zwischen den beiden Kontrollen häuslich einrichten", gibt Sven zu bedenken. Er klang sehr ernst dabei.
"Aber warum sollte jemand das tun ohne sich vorher um seine Papiere zu kümmern?" Man kann sich auch wirklich unnötig verkopfen. Taylor sagt nichts dazu, sondern kichert nur leise von der Rückbank aus.
Das Auffahren in den Shuttlebus folgt und die kommenden 40 Minuten werden schweigsam. Taylor liest etwas auf dem Rücksitz, bemüht das Buch im Dämmerlicht so zu halten, dass genug Licht auf die Seiten fällt. Sven klopft irgendeinen Takt auf dem Lenkrad und ich sitze gedankenverloren mit angezogenen Beinen auf meinem Sitz, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt, während mir verschiedene Sätze in den Sinn kommen, die sich zu einem neuen Song verarbeiten ließen. Nicht mehr lange und ich würden mein Ziel erreichen, England.

Draußen steht die Sonne grell leuchtend im Zenit, ganz entgegen dem englischen Klischee herrscht ein absolut wolkenfreier Tag. Wir drei sind endlich angekommen und sitzen nun um den kleinen runden Tisch eines süßen Cafés nahe der Küste. Wir brauchen jetzt erstmal eine Pause von diesem ereignisreichen Tag. Der rot-weiß gestreifte Schirm über unserem Platz schützt vor der Sonne. Ich atme die Luft mit geschlossenen Augen tief ein. Der "Jelly fish" ist nicht allzu weit vom Hafen entfernt, darum liegt in den Windböen der Geruch von Salz und Meer.

„Wie geht es eigentlich weiter, jetzt da wir angekommen sind?", fragt Sven in die Runde. Ich mag seine selbstbewusste Stimme und die vernünftige Art mit der er zu Reden pflegt. Entweder ist mir dies bei ihm früher nie aufgefallen oder er hatte sich damals schlichtweg anders benommen.
Aber er hat Recht, wie geht es jetzt weiter?
Ich nehme Taylors Blick auf mir wahr und erwidere ihn. Die Angst darin scheint direkt aus meinem eigenen Inneren zu sprechen. Der Moment der Wahrheit rückt unaufhaltsam näher und mittlerweile weiß ich selbst nicht mehr, ob ich die überhaupt wissen will. Ihr scheint es ähnlich zu gehen.
"Wir tun wohl besser schnellstmöglich das, was getan werden muss", antwortete ich schlicht.
"Ja." Taylor verschränkt ihre Arme vor der Brust, so als würde ihr diese Haltung mehr Sicherheit geben. "Bringen wir es hinter uns."

Identity ZeroWo Geschichten leben. Entdecke jetzt