Isabelle

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Wie diese Taylor mich aufregt! Ihre Stimme, ihr Gesicht, ihre Sprache! Allein dieses Mädchen auch nur anzusehen, macht mich verrückt.

„Mädels, lasst das Zicken, ich muss mich auf die Straße konzentrieren", versucht uns Sven mit all seiner diplomatischen Macht zur Vernunft zu bringen. Er klopft mit den Knöcheln gegen das Lenkrad und lässt eine halbe Minute verstreichen, ehe er uns in einem neuen Streitgespräch unterbricht. „So, Schluss jetzt! Ich nehme diese Ausfahrt und dann machen wir eine kurze Pause."

Mich beschleicht das unangenehme Gefühl Taylor und ich sind wieder einmal zu weit gegangen. Sven hat nämlich recht, wir streiten viel zu viel und das muss für ihn noch nerviger sein als für uns. Da er allerdings derjenige ist, der großzügigerweise angeboten hat uns nach Northfleet zu fahren, sollten wir eigentlich alles tun, um ihm das Leben angenehm zu machen. Wenn ich es doch nur schaffen könnte, mich von Taylor nicht provozieren zu lassen.

Der Wagen wird immer langsamer und fährt schließlich auf den Parkplatz der Autobahnraststätte. Es ist nicht gerade menschenleer dort, aber auch nicht übermäßig stark besucht, darum findet er eine Lücke nahe dem Eingang und lenkt den Wagen in einem Zug gekonnt hinein. „So, Ich brauche jetzt einen Kaffee und du, Bella, begleitest mich", kündigt er an, sobald der rote Polo stillsteht.

„Werde ich nicht einmal gefragt?"

„Freundlichkeit." Sven lässt das Wort kurz demonstrativ in der Luft hängen. „Wisst ihr, was das ist? Kennt ihr die Bedeutung dieses Wortes? Wenn ihr wollt, besorge ich euch einen Duden, da könnt ihr es nachschlagen und vielleicht in euren Wortschatz und in euer Leben integrieren."

Ich verdrehe nur die Augen und Taylor verschränkt ihre schlanken Arme vor der Brust. Mir drängt sich unmittelbar die Frage auf, ob ihre Arme wirklich so dünn sind oder durch die weitausgeschnittenen T-Shirt-Ärmel nur so wirken.

„Jedenfalls", fährt er fort. „Will ich mich endlich in Ruhe mit dir unterhalten und wenn dir so viel daran liegt, bitte ich dich hiermit mich zu begleiten."

Ich winke ab. „Ist ja schon gut."

Nun dreht Sven sich auf dem bereits etwas zerschlissenen grauen Fahrersitz so, dass er Taylor ins Gesicht sehen kann. „Aber ich möchte nicht, dass einer allein in meinem Wagen bleibt. Also geh dir ein wenig die Füße vertreten oder auf die Toilette oder so." Er scheint von uns dermaßen die Schnauze voll zu haben, dass er nicht davor zurück schreckt deutlich auszudrücken, was er will und ausnahmsweise auf seine lockere Kommunikation verzichtet.

„Kein Problem, ich hätte ohnehin ein Klo suchen müssen", sagt Taylor entgegenkommend und greift sofort nach dem Türgriff. Schleimerin. Beim Austeigen muss sie etwas den kopf einziehen. Als sie seitlich der Raststätte aus dem Blickfeld verschwindet, greift Sven nach seiner schwarzen Lederjacke, schließt von außen das Auto zu und geht mit mir Seite an Seite über den stinkenden Parkplatz. Woher der Gestand genau kommt, kann ich nicht sagen. Es liegt nicht einmal besonders viel Müll herum. Vermutlich gehört dieser Geruch einfach untrennbar zu Autobahnraststätten hinzu. Wobei ich in mich in meinem bisherigen Leben ausschließlich auf den wenigen Klassenfahrten an solchen Orten aufgehalten habe, darum ist auch diese Einschätzung nur wage. Um den Gestank auszublenden, konzentriere ich mich wieder auf die momentane Situation. Weder Sven, noch ich sagt etwas, darum ergreife ich nun das Wort. „Es tut mir leid. Die gesamte Situation ist absolut verrückt und du hast eigentlich gar nichts mit ihr zu tun."

Sven blickt mich abwartend an und ich habe das Gefühl fortfahren zu müssen. „Ich verstehe nicht, weshalb du Taylor und mich bis nach England fahren willst. Wirklich, dieses Angebot können wir eigentlich gar nicht annehmen und ich habe ein total schlechtes Gewissen." Ohne ihm ins Gesicht zu sehen, greife ich nach der metallenen Türklinke und halte die Glastür für ihn auf.

„Danke." Sven steckt die Hände in die Hosentaschen seiner schwarzen Jeans. „Du musst kein schlechtes Gewissen haben. Es sind schließlich Sommerferien, ich habe also ohnehin viel mehr Freizeit als gut für mich ist."
Lächelnd verdrehe ich die Augen. „Na, wenn du das so sagst..."

Ich stapfe entschieden die letzten Schritte bis zur vollgestopften Theke, wo ich bei den braunen Augen und dem dunkelgelockten Haarschopf, welcher der Verkäuferin gehören muss, drei Tassen Kaffee bestelle. Hinter der großen Kasse, den Spendendosen, Sammelsticker-Boxen, Armband- und Schlüsselanhängerständern ist mehr von der Frau nicht zu erkennen.

„Denkst du wirklich Olivian ist deine Mutter?", fragt Sven leise, mit den Augen die bunten Schlüsselanhänger begutachtend. Ich habe gewusst, dass er diese Frage irgendwann stellen würde, aber was sollte ich darauf schon antworten? In den letzten 24 Stunden seit wir Taylor begegnet sind und das Hotel verlassen haben, hat sich kein vernünftiger Gedanke in meinem Kopf formen können. „Keine Ahnung", murmele ich darum nur, nehme die drei bestellten Kaffeebecher entgegen und beeile mich zum Auto zurückzugehen. „Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich muss sie sehen." Irgendwie habe ich ein ganz mieses Gefühl bei dieser Sache, aber das würde ich Sven nicht auf die Nase binden. Ich möchte ihn schließlich nicht noch mehr beunruhigen.

Mit dem Rücken an den roten Polo gelehnt, wartet Taylor bereits auf uns. Sie trägt eine übergroße Bluejeans, die vielleicht noch als modisch durchgegangen wäre, würde das maskulin geschnittene T-Shirt in matschgrüner Farbe ihr keinen Strich durch die Rechnung machen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal derart unvorteilhafte Kleidung getragen habe. Wahrscheinlich als ich Tante Lydia dabei geholfen habe ihren Hausflur neu zu streichen. „Na endlich, ihr Labertaschen", seufzt die Australierin. „Ihr habt länger gebraucht, als ich erwartet hatte."

„Als was hast du uns gerade bezeichnet?" Ich versuche nicht gleich zu misstrauisch zu klingen, weiß aber nicht, ob mir das gelingt. Schnell drücke ich ihr einen der dampfenden Pappbecher in die Hand. Möglicherweise wäre es doch sinnvoll gewesen die Englischvokabeln über die Tests hinaus zu verinnerlichen, denke ich mir. Ich schätze mich glücklich, wenn ich Taylor verstehe und mich trotz meines nicht gerade übermäßig üppigen Wortschatzes verständigen kann. Mit den Arbeitskollegen meines Vaters konnte ich mich stets problemlos unterhalten, aber die sprachen glasklares Englisch, außerdem tauschte man bloß Formalitäten aus. Und natürlich lernt man in seiner Schulzeit tausende von Vokabeln, aber nicht jene, die man dann im echten Leben tatsächlich benötigt. Ein solches Wort könnte in meiner Situation sein: zum kotzen, tanken, Autobahnraststätte und diverse spezifischere Beleidigungen als bloß Idiot oder dummer Idiot. Letzteres ist für die ohnehin angespannte Beziehung zwischen mir und Taylor aber vermutlich vorteilhafter.

„Oh, Kaffe. Danke." Taylors sonnengebräuntes Gesicht hellt sich erfreut auf. „Egal, ist nicht wichtig, war ein umgangssprachliches Wort." Sie wirkt nicht genervt oder giftig, was mich vermutlich weniger verwundern sollte, als es der Fall ist.

„Okay." Wir beide lächeln uns ein wenig zu und zum ersten Mal habe ich das Gefühl so etwas wie ehrliche Wärme in ihren blaugrünen Augen erkennen zu können.

Identity ZeroWhere stories live. Discover now