19. Kapitel - Schwach

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Nachdem ich mich angezogen hatte, griff ich nach dem weißen Hijab, der über der Heizung hing, ehe ich zurück zu den anderen lief. Das Gefühl, wieder saubere Klamotten zu tragen, war schön.

Tarek und Ryan lagen nebeneinander auf dem Boden, während die Tür leise hinter mir ins Schloss fiel. Ryans Kopf drehte sich in meine Richtung und er lächelte leicht. Schweigend stieg ich über die beiden zu Malek, um mich neben ihn auf die Matratze zu legen.

„Gibt es Neuigkeiten?", wisperte ich und legte währenddessen das Kopftuch auf den Schrank neben mir. „Callisto wird morgen früh vorbeikommen, um alles mit uns zu besprechen."

Callisto war vermutlich der LKW-Fahrer, der uns Übermorgen nach England bringen würde. Vorsichtig ließ ich mich zurück in die Matratze sinken und starrte an die Decke. Das Licht war immer noch an.

„Sollen wir das Licht anlassen?", fragte Ryan plötzlich, als hätte er meine Gedanken gelesen und ich sah zu ihm.

Als Antwort setzte ich mich auf und löschte das Licht.

Ein kleiner Schwarm an stillen Sekunden flog an uns vorüber und langsam schlossen sich meine Augen von allein. Erinnerungen flackerten vor meinen geschlossenen Augen auf und füllten die Nischen der Finsternis mit Bildern. Von den warmen Momenten, in denen meine Mutter für uns Kamelfleisch zubereitet hatte oder wie Papa mich in den Armen gehalten hatte. Ich erinnerte mich an unsere Freude, als mein kleiner Bruder zur Welt gekommen war. All diese Momente bahnten sich ihre Wege, suchten nach einem Platz. All die Erinnerungen an meine Eltern liefen rastlos durch meinen Kopf, wussten nicht wohin, denn es gab keinen Ort mehr, an den sie passten.

Ich wusste, dass da irgendwo in mir ein gewaltiger Schmerz tobte.

Ich wusste, dass da Gefühle waren, die ich nur bei ihnen hatte empfinden können und die nun kein Zuhause mehr hatten. Sie waren heimatlos.

„Schlaf gut, Ali", hörte ich Ryan Stimme und öffnete wieder die Augen. „Gute Nacht, Ryan", wisperte ich und war ihm dankbar dafür, dass er mich davon abgehalten hatte, mich im Schmerz zu suhlen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um an sie zu denken.

Vermutlich würde es einen solchen Moment nie geben.

Während ich merkte, wie mich die Erschöpfung in die Arme nahm und ich dabei war, einzuschlafen, klammerte ich mich an all die Erinnerungen, die ich mit ihnen teilte, um sie nicht zu verlieren.

***

Stunden vergingen, in denen meine Augen geschlossen blieben. Für wenige Augenblicke war ich wieder alleine. Trieb auf dem ruhigen Meer und genoss den lautlosen Wind, der trotz der vermeintlichen Stille meine Gedanken übertönte.

Mein Kopf schmerzte nicht mehr und das Zittern hatte aufgehört, während ich auf den Überresten meiner Hoffnungen segelte.

Meine Gefühle schwiegen, während die Zeit stumm an mir vorbei rauschte. In meinen Gedanken herrschte die gleiche Stille, die sich auch nach einem Gewitter auf die Menschen legte.

Plötzlich murmelte Malek etwas und ich riss erschrocken die Augen auf. Ängstlich richtete ich mich im Bett auf und versuchte durch die Dunkelheit etwas erkennen zu können, jedoch schien alles in Ordnung zu sein. Malek und Aadil schliefen, jedoch hörte mein Herz nicht auf panisch gegen meinen Brustkorb zu klopfen. Die Angst, dass irgendetwas hätte passieren können, lähmte mich, sodass ich glaubte, nicht weiterschlafen zu können.

Ich griff nach dem Hijab, ehe ich leise vom Bett stieg und in der Finsternis nach meinem Rucksack tastete, bis ich ihn fand. Lautlos schlich ich über Ryan und Tarek zur Tür.

Ich muss hier raus.

Leise lief ich die Treppe hinunter. Hier unten hatte ich das Gefühl, wieder atmen zu können und alleine zu sein.

Meine Gefühle taumelten orientierungslos durch die Gegend und schienen immer wieder die Farben zu wechseln, während ich mich auf einen der Stühle setzte, die in der Nähe der Fenster standen. Ich zog die Beine an und legte mein Kinn auf die Knie, ehe ich mich kaum merklich vor und zurück wog, um mich zu beruhigen. Meine Augen schlossen sich, als ich mich an die Dinge erinnerte, die mir Hoffnung gaben.

Bei Regen wussten wir, dass die Sonne wieder durch die Wolkendecke scheinen würde. Wir wussten bei Dunkelheit, dass das Licht zurückkehren und beim Fallen der Blätter, dass sie wieder blühen würden. Alle Ereignisse der Erde machten uns deutlich, dass nichts von Dauer war und Fröhlichkeit stets folgen würde.

„Ali?" Die raue Stimme von Ryan ließ mich erschrocken zusammenzucken und ich fuhr herum.

„Was machst du hier?", fragte ich und räusperte mich kurz, als ich wieder das Brechen meiner Stimme hörte. Ryan legte den Kopf schief, während er sich einen anderen Stuhl heranzog und sich vor mich setzte. Sein Blick suchte meinen. „Dasselbe könnte ich dich fragen."

Ich schaute ihn an. Seine dunkelbraunen Haare waren lang geworden, sodass ihm einige Strähnen ins Gesicht fielen. Die dunklen Augenbrauen und der leichte Bartschatten, der sein Kinn umgab, ließen seine Gesichtszüge markanter wirken.

Er hat ein schönes Gesicht.

„Ich konnte nicht mehr schlafen", erklärte ich und er nickte leicht. „Ich auch nicht."

Ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn geweckt hatte, aber das schien ihm nichts auszumachen.

„Wo werden wir in England leben?", fragte ich nach einer Weile und beobachtete ihn. „Soweit ich weiß, gibt es eine leerstehende Lagerhalle, in der wir unterkommen können." Ryans Blick glitt nachdenklich zu der leicht beleuchteten Treppe, die nach oben führte. „Aber Morgen werden wir mehr erfahren."

Ich nickte leicht, ehe ich zurück zum Fenster blickte. Draußen kämpften sich die ersten Sonnenstrahlen über die Dächer der anderen Häuser und füllten die Dunkelheit mit Licht.

„Ali?", wisperte Ryan und meine Augen wanderten fragend zu ihm. „Es tut mir leid."

Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. „Was tut dir leid?"

Ryan ließ mich nicht aus den Augen, als mir bewusstwurde, was er meinte.

Alles tat ihm leid.

Die letzten Tage waren grau und trostlos gewesen, aber diese Nacht hätte vermutlich schrecklicher nicht sein können. Ich hatte erfahren, dass meine Eltern tot waren. Oma war nicht bereit, uns ein zu Hause zu sein und nun standen wir da. Ohne Pläne und voller Fragezeichen.

Wir wussten nur, dass wir nach England gehen würden. In ein Land, das uns fremd war.

Langsam erhob ich mich, sodass er stirnrunzelnd zu mir hinaufsah.

„Danke." Meine Stimme war weniger als ein Flüstern, aber er hatte mich verstanden, denn ein Lächeln legte sich auf seine Lippen.

Er lächelt oft.

Statt zu antworten, hob er die Hand und strich mir mit dem Daumen sanft über die Wange. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass mir Tränen übers Gesicht liefen. Ich wusste nicht, warum, aber in seinen Augen lag so viel Mitgefühl, dass es mich daran erinnert hatte, was hier gerade passierte. Mein Kinn fing an zu zittern, als ich spürte, was ich dabei war zu verlieren.

„Hey." Bei Ryans Stimme konnte ich das Gefühl nicht mehr zurückhalten, sodass mir ein leises Wimmern entwich. Sofort stand er auf und zog mich in seine Arme, während ich die Augen schloss und versuchte gegen das heftige Ziehen in meiner Brust zu atmen.

Ich wollte nicht schwach sein, weil ich wusste, dass es umso schwerer sein würde wieder stark zu werden.

Ich wünschte mir oft, stark genug zu sein, um auch Schwäche zeigen zu können, aber das war ich nicht. Nur in diesem Moment schien ich es nicht aufhalten zu können.

Zu weinen war keine Schwäche, das war mir klar. Nur machte mich der Schmerz, der es verursachte, zerbrechlich und verletzlich.

Ich hielt mich an Ryan fest, als ich merkte, wie mein Körper zu beben begann und ich zur Seite trat, um dem Schmerz freien Lauf zu lassen. 

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now