28. Kapitel - Details

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Nachdem Ryan verschwunden war, ließ sich auch Tarek auf seine Matratze fallen und schien sich ausruhen zu wollen. Ich beobachtete die fremden Menschen um uns herum und lauschte ihren neuen Stimmen. In ihren Augen flackerten graue Farben und triste Gefühle auf, während das Licht, das durch die kleinen Löcher in den Wänden schien, zunehmend dunkler wurde.

Irgendwann fingen die Menschen an, ihre Lichter anzumachen. Manche benutzten die Lampen an ihren Handys. Eine Frau legte es neben sich, um ihr Kind besser sehen zu können, das ihr gerade etwas zu erzählen schien.

Andere legten das Licht einfach nur neben sich, um nicht im Dunklen einschlafen zu müssen. Offenbar war ich nicht die Einzige, die der Finsternis misstraute.

Malek und ich hatten weder eine Taschenlampe noch ein Handy.

Als ich zu ihm sah, hob sich seine Brust in regelmäßigen Abständen. Bei jedem seiner Atemzüge, bewegte sich auch Aadil, der auf ihm schlief. Manchmal tat es beinahe weh, wenn ich daran dachte, wie sehr mein Leben an ihre gebunden war. Ich hatte nur sie.

Plötzlich drehte sich Tarek in meine Richtung, der bis jetzt mit dem Rücken zu uns geschlafen hatte. Einige Sekunden lang starrte er mich wortlos an, bis ich fragend die Augenbrauen hob. „Ist was?"

Er schüttelte den Kopf, wandte jedoch nicht den Blick ab. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf und schloss die Augen, in der Hoffnung, einschlafen zu können.

Eine Weile hingen wir schweigend unseren Gedanken nach und versuchten zur Ruhe zu kommen. Das Chaos, das in meinem Kopf herrschte, schien sich aber noch lange nicht gelegt zu haben.

„Möchtest du das wirklich?", fragte Tarek plötzlich und ich öffnete die Augen, um ihn anschauen zu können.

„Was meinst du?" Meine Stimme war leise, während ich sprach, damit wir Malek und Aadil nicht aufweckten.

Er stützte sich mit dem Ellenbogen auf der Matratze ab und ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Dieses Leben hier", flüsterte er zurück und mein Blick schweifte nachdenklich zu den anderen Menschen in unserer Nähe. Die meisten schienen bereits zu schlafen.

Er seufzte tief, aber bevor ich etwas erwidern konnte, unterbrach er meine Gedanken. „Ich weiß, du denkst, dass es nicht für immer so sein wird, aber wie sollen wir es hier je wieder rausschaffen?", fügte er hinzu und nickte in Richtung unseres Umfelds.

Wieder überlegte ich eine Weile und konnte sein Gesicht auch von weiterweg erkennen. Wenn es hell war, strahlten seine Augen. Nicht wegen der Farbe, sondern der Tiefe, die in ihnen lag. Es schien, als würden sich seine Erinnerungen in der Spiegelung seiner Augen abspielen.

„Ich weiß nicht, ob wir hier irgendwann wieder rauskommen." Mein Blick zuckte kurz zu meinen Brüdern. „Ich weiß nur, dass wir dankbar dafür sein sollten, hier einen Ort gefunden zu haben, an dem wir sicher sind." Ich schaute wieder zu ihm und ich bemerkte, dass ein schwaches Lächeln auf seinen lag, als er Malek und Aadil ansah. „Du hast recht." Er wandte sich wieder mir zu. „Danke."

Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Wofür?"

Er ließ den Kopf zurück auf seine Matratze sinken, bevor er mir antwortete. „Dafür, dass ich mitkommen durfte."

***

Es waren nicht die Stimmen der anderen, die mich weckten, sondern eine Berührung an meiner Schulter.

„Ali." Erschrocken zuckte ich zusammen und öffnete die Augen. Ryan hockte neben mir und blickte zu mir hinunter.

„Tut mir leid, falls ich dich erschreckt habe."

Ich stützte mich mit den Ellenbogen auf der Matratze ab, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. „Schon okay", murmelte ich und räusperte mich, als ich bemerkte, dass meine Stimme noch heiser vom Schlafen war.

„Wir müssen los", wisperte er und richtete sich wieder auf.

Ich runzelte verwirrt die Stirn und starrte ihn irritiert an.

„Du fängst heute schon an zu arbeiten", erklärte er und mein Herz stolperte erschrocken. „Ich hab's nicht anders hinbekommen. Tut mir leid." Er hielt mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen. „Ich bring dich hin."

Automatisch ergriff ich sie und nickte langsam. „Okay. Wie viel Uhr ist es?", fragte ich und er griff nach meinem Rucksack, ehe er sich ihn über die Schulter warf.

„Gleich halb sechs", antwortete er mit gesenkter Stimme und deutete mir an, ihm zu folgen. Während wir lautlos an den Menschen vorbeiliefen, schlich sich die Erinnerung an die Nächte auf dem Boot zurück in mein Bewusstsein. Die Menschen hatten genauso müde und kraftlos aneinander gestanden.

Mein Blick glitt über einen älteren Mann, der sich unter eine dünne Decke gekauert hatte und die Augenbrauen im Traum ängstlich zusammengezogen hatte. Neben ihm stand ein Rucksack. Ich spürte, wie mein Kinn anfing zu zittern.

„Aleyna", flüsterte Ryan, als er merkte, dass ich stehen geblieben war.

Statt weiterzugehen, starrte ich den Rucksack an. Er war mit lauter bunten Flicken übersät, die jedoch nicht für die vielen Löcher reichten. Es war, als würde sein Rucksack zeigen, wie es in dem Mann aussah. Wie es in uns aussieht. Wir waren voller Löcher und versuchten sie dennoch immer wieder zusammenzuflicken. An den ungeraden Nähten konnte man erkennen, dass der Mann versucht hatte, sie selbst aufzunähen.

„Aleyna", zischte Ryan etwas lauter als zuvor. Ich sah auf und begegnete seinem Blick. Die einnehmende Dunkelheit verbarg die linke Seite seines Gesichts und trotzdem konnte ich erkennen, dass sich sein Ausdruck schlagartig veränderte. Besorgte Falten entstanden auf seiner Stirn, während er die wenigen Schritte zurückging, die zwischen uns lagen.

„Hey." Seine Stimme war weniger ein Flüstern. „Was ist los?", fragte er, ehe ich seine Hand an meiner Wange spürte. Wärme breitete sich an der Stelle aus, wo seine Finger auf meine Haut trafen.

„Was ist passiert?"

Es wäre seltsam, wenn ich ihm erzählen würde, dass ich wegen eines Rucksackes beinahe angefangen hatte zu weinen. Normalerweise war ich stärker.

Aber war ich schwach, weil mich der Rucksack, an unsere Verletzlichkeit erinnerte?

„Wir", ich räusperte mich, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. „Wir müssen los, Ryan."

Zuerst sah es so aus, als würde er widersprechen wollen, aber dann änderte sich etwas in seinem Blick und er trat beiseite, um mich vor zu lassen. Ich war mir sicher, dass er das tat, um das nächste Mal direkt zu merken, wenn ich stehenblieb.

Aber das blieb ich nicht.

Ich ging weiter, vorbei an schlafenden Menschen und versuchte währenddessen die Erinnerungen zurückzudrängen.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now