48. Kapitel - Gefühlsgewitter

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Die Stimmung lockerte sich mit jeder Minute, die verging, und das Eis schien immer weiter zu schmelzen. Miranda stellte uns viele Fragen, aus denen sich angenehme Gespräche entwickelten, während ich Amys Gurken aß, die sie mir auf meinen Teller legte, nachdem ich erfahren hatte, dass sie sie nicht mochte. „Mom und Dad zwingen mich immer, sie zu essen, aber ich mag sie gar nicht", beschwerte sie sich und ich musste lachen.

„Wie geht es deiner Mutter?", richtete sich David nach einer Weile an Ryan und die Gabel in meiner Hand erstarrte.

Ryan brauchte nicht lange für seine Antwort, während sich sein Körper verspannte und sein Kiefer nervös zuckte. „Sie ist tot." Er sah nicht von seinem Teller auf, als er diese drei Worte aussprach.

Ich merkte, wie die Stimmung im Raum abrupt kippte und Mirandas Lächeln zum ersten Mal an diesem Abend erstarb.

„Das tut mir leid, Ryan", brach David das Schweigen, bevor er sich räusperte. „Ich hatte mir schon gedacht, dass du hier nicht einfach ohne Grund auftauchst."

Ryan hob den Blick und starrte seinen Vater verwirrt an. „Was meinst du damit?"

David fuhr sich mit einer Serviette über den Mund und ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Du hast vierzehn Jahre lang nichts von dir hören lassen. Dass du mich plötzlich angerufen hast, kann ja nicht einfach grundlos sein."

Ryan versteifte sich noch mehr und ich griff wieder nach seiner Hand. Er blickte zu mir. Unruhe tobte in dem schönen Braun seiner Augen und ich drückte seine Hand fester.

„Sie ist vor drei Jahren gestorben", erklärte Ryan etwas lauter als zuvor, nachdem er sich wieder David zugewandt hatte.

„Warum hast du dich dann nicht schon früher gemeldet?" Ich hielt dem Atem an. David schien gar nicht zu merken, wie falsch seine Worte klangen.

„Warum ich mich nicht gemeldet habe?", entfuhr es Ryan.

David nickte zögernd, als würde er merken, dass dieses Gespräch bald eskalieren würde. „Nachdem ich gegangen war, habe ich deiner Mutter eine Telefonnummer hinterlassen. Für dich. Du hättest mich sofort anrufen können."

Ryan lachte freudlos, ehe er sich mit den Händen am Tisch abstützte, ruckartig vom Stuhl hochfuhr und sich in Davids Richtung über den Tisch lehnte. „Scheiße, ich war fünf verdammte Jahre alt!"

Die Spannung im Raum war zum Reißen gespannt, während David verblüfft zu Ryan hinaufstarrte. „Ich weiß", entgegnete er dumpf. „Aber jetzt bist du neunzehn."

Ryans Hände ballten sich zu Fäusten.

„Was glaubst du, haben wir gemacht, während du dir hier dein neues Leben aufgebaut hast? Mit diesem verflucht perfekten Haus, deinem beschissenen Auto und deiner englischen Bilderbuchfamilie", er hielt inne, hob fragend die Augenbrauen, aber David blieb stumm.  „Wir haben uns versucht über Wasser zu halten." Ryans Knöchel traten weiß hervor. „Jeden verdammten Tag hatte ich Angst, sie auch noch zu verlieren." Ryan schüttelte leicht den Kopf, während er anfing leicht zu lächeln. „So weit hast du gar nicht erst gedacht, nicht wahr? Da lebt es sich ohne die Vergangenheit doch deutlich besser, hab' ich recht?"

Er schloss die Augen. „Du wolltest mich gar nicht finden", stellte er so ruhig fest, dass ein Schauer meinen Rücken hinunter jagte. „Deshalb hast du erst gar nicht gesucht." Er öffnete sie wieder und starrte David ausdruckslos, als er den Kopf schieflegte. „Du bist ein Feigling, David."

Ich sah zu Amy, die das Gespräch aufmerksam beobachtete, wohingegen Mirandas Blick hilflos durch den Raum zuckte, als würde sie nach einem geeigneten Ausweg suchen, um dieser prekären Situation zu entkommen.

David erhob sich ebenfalls. Die Anspannung stand ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben. „Ich würde dieses Gespräch gerne zu einem anderen Zeitpunkt führen", bat er und ließ seinen Sohn dabei nicht aus den Augen, als befürchtete er, Ryan könnte irgendetwas Dummes tun.

Stattdessen richtete sich sein Sohn jedoch so abrupt auf, dass der Stuhl hinter ihm einen erschreckten Laut von sich gab und ich heftig zusammenzuckte. „Dann lass von dir hören, wenn du soweit bist." Mein Blick glitt zu ihm hinauf. „Wir gehen jetzt", presste er hervor und hielt mir die Hand hin.

Ich blickte noch einmal zu Miranda und Amy, die mit großen Augen auf Ryans Hand starrten.

„Ryan, ich-." David schien nach den richtigen Worten zu suchen, aber Ryan kam ihm zuvor. „Lass gut sein." Er wandte sich von seinem Vater ab und schaute mich stattdessen erwartungsvoll an. Kurz wurde sein Blick weicher, als ich automatisch nach seiner Hand griff und ebenfalls aufstand. Bevor ich mich noch einmal umdrehen konnte, zog Ryan mich bereits in Richtung Flur.

„Warte, ich fahre euch." David lief um den Tisch herum und folgte uns, aber Ryan blieb nicht einmal stehen. „Vergiss es", lehnte er das Angebot seines Vaters ab und öffnete die Haustür.  „Wir nehmen den Bus."

„Danke für das Essen", verabschiedete ich mich, auch wenn es nicht wirklich zur Situation passte. Als die Tür bereits mit einem Rumsen ins Schloss viel und ich die Treppen hinunterstolperte, entspannte sich Ryan zwar ein wenig, ließ meine Hand jedoch erst los, als wir die Straße hinuntergingen.

Sein gesamter Körper blieb angespannt, während wir auf den Bus warteten und die leisen Geräusche der Nacht das einzige war, das die Stille störte. „Schau am besten keinem in die Augen, okay?", durchbrach er nach einer Zeit das Schweigen und ich schaute zu ihm. Er saß neben mir auf der Bank der Bushaltestelle, auf der wir Platz genommen hatten. „Ja", wisperte ich, bevor mein Blick die spärlich belichtete Gasse hinunterwanderte. Die Häuser hier hatten- außer, dass sie Häuser waren- keinerlei Ähnlichkeit mit denen, die ich bis jetzt in der Nähe der Lagerhalle gesehen hatte. Sie standen nicht dicht an dicht gedrängt, sondern beäugten sich durch die großen Vorgärten, die zwischen ihnen lagen, eher aus der Ferne. In den meisten Fenstern flackerte noch Licht durch die Vorhänge, was diesen Ort selbst in der Nacht beruhigend lebendig wirken ließ. Ich schloss die Augen.

Wenn die Welt schlief und sich der Himmel in den dunkelsten Farben wog, roch die Luft anders als am helllichten Tag. Genau wie jetzt. Ryans Geruch mischte sich unter den Nebel, der sich auf meine Sinne gelegt hatte, während ich dem entfernten Zirpen einer Grille lauschte. Die Arme der Bäume bogen sich wispelnd unter dem Streichen des Windes, der die Vögel aus den Baumkronen jagte, sodass ich den Bus erst hörte, als er nur noch wenige Meter von uns entfernt war.

Auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass das hier fast genauso riskant war, wie im Restaurant zu singen, erhob ich mich und folgte Ryan in die Richtung des Buses. Während sich seine Finger durch meine schoben, versuchte ich das Gefühl, das seine Hand auf meiner Haut auslöste, zu ignorieren.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now