8. Kapitel - Warmes Schweigen

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„Ich mach den Verband jetzt ab, in Ordnung?", fragte Ryan und schien immer noch die Ruhe in Person zu sein, als er sich zwei Plastikhandschuhe über die Finger zog. Eine Pinzette, Mullgewebe und eine Nadel, an die er einen dünnen Faden geknotet hatte, lagen neben Malek auf dem Tisch, während Ryan den Verband sachte abwickelte.

„Ich freu mich", presste Malek hervor und ließ den Kopf seufzend zurück auf die Tischplatte sinken, ehe er auf das Stück Stoff, das ihm Ryan hingehalten hatte, biss.

Ich hatte das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen, nachdem Ryan den Verband zur Seite gelegt hatte. Die ganze Haut rund um die Schusswunde war noch voller Blut und hatte sich an manchen Stellen seltsam blau verfärbt. Aus dem Loch in Maleks Bein lief immer mehr Blut, bevor es auf das dunkle Holz des Tisches tropfte und sich dort zu einer Blutlache bildete. Starr beobachtete ich, wie sich Ryan die Wunde genauer ansah, ehe er nach der Pinzette griff und vorsichtig nach der Kugel pulte. Maleks Schreie zerrten an meinem Herzen, das warnend auf meine Brust eintrommelte, und hallten an den Wänden wider. Ich blinzelte mehrmals, während ich auf die Verletzung starrte, aus der Ryan gerade eine kleine Kugel zog. Hitze jagte durch meine Adern und hinterließ ein flaues Gefühl im Magen.

Ich schloss die Augen, um mich auf meine Atmung zu konzentrieren und bemerkte gar nicht wie ich Maleks Hand losließ, die sich krampfhaft in meine gekrallt hatte. Erst als ein dumpfes Geräusch durch meine leeren Gedanken schnitt und sich ein stechender Schmerz in meiner Seite bemerkbar machte, wurde mir bewusst, dass ich umgefallen war.

***

Mein Schädel schmerzte, als meine Gedanken langsam wieder anfingen zu atmen. Ich sog tief die kalte Meeresluft ein, während ich zögernd die Augen öffnete und Ryans Gesicht über mir entdeckte. Seine Lippen bewegten sich zu leisen Worten, die in dem lauten Fiepen in meinen Ohren untergingen. Ächzend stemmte ich die Ellenbogen in den Boden und versuchte mich aufzusetzen. Mein Kopf dröhnte, als würde jemand mit Fäusten auf ihn eintrommeln, aber ich musste wissen, ob es Malek gut ging.

Mein Blick glitt zu der Hand, die über der Tischkante hing, ehe ich zurück zu Ryan blinzelte. Meine Augen brannten vor Müdigkeit.

„Hey." Ryans Stimme summte leise in meinen Ohren, während ich mich weiter versuchte aufzusetzen. „Mach mal halb lang, Ali", wisperte er und stützte mich an den Seiten. Ich entdeckte die blutverschmierten Plastikhandschuhe, mit denen er Malek versucht hatte, die Kugel aus dem Bein zu holen, neben dem Boden. Wieder machte sich das dumpfe Gefühl von Übelkeit in meinem Magen breit.

„Hast du", fing ich an, aber wurde durch den pochenden Schmerz unterbrochen, der wütend auf meinen Schädel hämmerte, sodass ich die Augen zusammenpresste in der Hoffnung, er würde verschwinden. „Hast du die Kugel rausbekommen?", fragte ich leise.

„Du solltest dich hinlegen", überging Ryan meine Frage und strich mit seiner Hand so leicht meine Wange, dass ich glaubte, es mir nur eingebildet zu haben. „Hast du?", hakte ich nach und er seufzte leise. „Ja, habe ich. Malek geht's gut." Er nickte in die Richtung des Tisches. „Er schläft, aber bitte leg dich jetzt wieder hin", bat er erneut und ich ließ mich schweigend zurück auf den Boden gleiten. Ich wäre am liebsten aufgestanden und hätte Malek beobachtet, um sicher zu gehen, dass Ryan mir die Wahrheit gesagt hatte, aber mein Körper konnte nicht mehr. „Ist Aadil noch oben?", erkundigte ich mich mit heiserer Stimme und Ryan nickte. „Du warst nur für ein oder zwei Minuten ohnmächtig."

Ich starrte ihn für wenige Sekunden verwirrt an, ehe sich meine Finger in meine Haare bohrten, auf der Suche nach Halt. Hatte Malek nicht noch geschrien, als ich zusammengebrochen war? Ich erinnerte mich nicht mehr. Mein Kopf war wie leergefegt und das machte mir Angst. Ich drehte mich auf die Seite, als ich merkte, dass ich schon wieder weinte.

„Ich bin sofort wieder da", hörte ich Ryan sagen und brachte ein schwaches Nicken zustande, während die Müdigkeit bereits die Finger nach mir ausstreckte und mich zurück in den Schlaf zog.

***

Als ich das nächste Mal aufwachte, starrte mir reine Finsternis entgegen. Der dunkelblaue Himmel, den ich durch die kaputten Fenster sehen konnte, ließ meinen Atem wieder ruhiger werden. Die kalte Nachtluft rauschte durch meine Adern und weckte meine Muskeln, sodass ich mich ätzend aufsetzte.

„Hey", erklang plötzlich eine warme Stimme zu meiner Linken, ehe sich jemand aufsetzte und vor mich hockte. „Wie geht's dir?", fragte Ryan, während ich versuchte, etwas durch die tiefe Schwärze erkennen zu können. „Gut", entgegnete ich und blickte zu Malek hinauf. Als ich seine dunkle Silhouette ausmachen konnte, flutete Erleichterung meine Gefühle und ließ die Anspannung aus meinen Schultern weichen. „Wie lange habe ich geschlafen?", erkundigte ich mich flüsternd und sah, wie sich Ryans Kopf leicht zur Seite neigte. „Nicht genug", antwortete er unprätentiös, bevor er sich seufzend zurück neben mich fallen ließ. „Ist Malek nochmal aufgewacht?", wisperte ich und sank ebenfalls zurück auf den Boden. Ich hätte da sein müssen. Ich hätte Maleks Hand halten müssen.

Stattdessen habe ich geschlafen.

„Nicht wirklich, nein", erklärte er tonlos und ich wandte betreten den Blick ab. Ich hoffte inständig, dass Ryan nicht sah, wie sehr ich mich schämte. Er hatte mehrmals gesagt, dass es ihm lieber wäre, wenn ich oben auf ihn warten würde, aber ich hatte abgelehnt und war zusammengebrochen. Ich hatte für noch mehr Probleme gesorgt, während er meinem Bruder eine Kugel aus dem Bein geholt hatte.

„Tut mir leid", murmelte ich nach einer Weile und unterbrach das warme Schweigen zwischen uns, während ich die Beine anzog. „Es tut dir leid?", wiederholte er ungläubig und ich nickte, ehe ich hörte, wie er sich zu mir drehte.

„Du verlierst das Bewusstsein, nachdem du tagelang abgezehrt durch die Wälder gerannt bist, dabei zugesehen hast, wie dein eigener Bruder angeschossen wurde und ich ihm anschließend die Kugel aus dem Bein gezogen habe und das erste, was du tust, ist dich zu entschuldigen?"

Verwirrt über seine Reaktion starrte ich ihn mit großen Augen an und musterte die schwarzen Schatten, die sein Gesicht umarmten. „Ich hätte auf dich hören sollen", stellte ich mit gesenkter Stimme fest. Er schwieg eine Zeit lang, ehe er sich seufzend zurück auf den Rücken rollte.

„Ja, das hättest du", erwiderte er kaum hörbar. „Aber wahrscheinlich hätte ich es genauso gemacht." Seine Worte waren so leise, dass ich sie beinahe nicht verstanden hätte. Ein schwaches Lächeln legte sich auf meine Lippen. Wieder vergingen Momente der Stille und ich lauschte seinem Atem, der immer gleichmäßiger und ruhiger wurde. Ich versuchte die Gespräche, die von draußen zu uns drangen, zu ignorieren und mich stattdessen auf das sanfte Rauschen der Wellen zu konzentrieren, die gegen das Boot schwappten.

„Danke", wisperte ich, als ich mir sicher war, dass Ryan eingeschlafen war.

Ich glaube, ich habe mich noch nie bei ihm bedankt.

Da war immer eine Stimme in meinem Hinterkopf, die nicht glauben konnte, dass er das tat, um uns zu helfen. Dass er das tat, weil er ein guter Mensch war.

Als ich hörte, wie er innehielt, wusste ich, dass er mich verstanden hatte. „Wofür?", raunte er und ich hörte, wie er sich auf die Seite rollte. Es gab zu viele Gründe, um ihm zu danken. So viele, dass sie gar nicht alle in diesen Augenblick passten.

„Für alles", antwortete ich deshalb und schloss lächelnd die Augen, als ich seinen Blick auf mir spürte.

„Versuch zu schlafen. Ich will nicht, dass du nochmal zusammenbrichst, okay?", flüsterte er mit belegter Stimme und ich nickte leicht.

Die Müdigkeit der vergangenen Stunden brach in Wellen über mir zusammen und sog mich sanft zurück in den Schlaf, während das leise Atmen von Malek und Ryan wie weiche Musik in meinen Ohren klang.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now