8. Kapitel Ein Wiedersehen

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Nein, Al ging es nicht gut. Er war zwar weder aufgefressen oder verletzt worden, aber zumindest fühlte er sich so. Heute war schon der fünfte Tag, seitdem Jolly verschwunden war und er hatte längst jegliche Hoffnung verloren, seine Schwester jemals lebend wiederzusehen.
In der ersten Nacht hatte er kein Auge zugetan, nur mit tränenüberströmtem Gesicht aufs Wasser gestarrt und nach Jolly gerufen, bis er ganz heiser war. Am darauffolgenden Tag hatte er alle Sachen zusammen getragen, die Jolly besonders am Herzen gelegen hatten. Es waren nicht viele Dinge, bloß vier.
Das erste war das wunderschöne Gehäuse einer Meeresschnecke, das von außen bräunlich war und eine elegant geschwungen Form hatte. Wenn man mit dem Finger darüber strich, so fühlte es sich rau an. Innen hingegen war sie glatt und weiß - rosa. Immer wenn Jolly unglücklich gewesen war, hatte sie sich mit dem Gehäuse unter eine Palme gesetzt, es ans Ohr gelegt und dem Rauschen des Meeres gelauscht.
Der zweite Gegenstand war ein Stück Treibholz, in dem Jolly ein Pferd erkannt hatte. Oft hatten sich Al und Jolly versucht auszumalen, was für eine lange Reise dieser Ast hinter sich haben konnte. Vielleicht war er ja von einem Baum an Englands Küste abgebrochen worden und nun bis zu ihnen getrieben. Dieses einfache Stück Holz hatte Jolly stets Hoffnung auf eine baldige Rückkehr nach Hause gegeben. Wenn ein Ast so weit reisen konnte, dann mussten sie beide es doch auch können.
Der dritte Gegenstand war eine schillernde Feder. Die eines Paradiesvogels, wie Al vermutete. Sie hatten sich in der Schule einmal Aufzeichnungen eines irischen Wissenschaftlers namens Vigors angesehen, daher seine Annahme. Aber sicher war er sich nicht. Auf dieser merkwürdigen Insel hatte er schon so viel Außergewöhnliches gesehen, von kleinen grünen Kaninchen mit Hörnern über Monster bis hin zu Meerjungfrauen, dass er an fast nichts mehr zweifelte.
Die Feder war wunderschön. Al hatte sie am Schaft zwischen den Fingern gedreht und einfach nur angeschaut. Sie war mindestens so lang wie sein Arm und glänzte in allen Farben des Regenbogens. Grün und blau, rot und gelb. Farben. Viel zu schön. Beinahe hätten sie ihm ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert.
Und Emma. Ja, der vierte und letzte Gegenstand war Jollys Puppe Emma. Al hatte sie in seinen Händen gehalten und angesehen. Das unbewegte Gesicht mit dem unbeweglich lächelnden Mund. Al hatte Jolly oft dabei beobachtet, wie sie der Puppe alle ihre Sorgen beichtete. „Hilf mir.", flüsterte Al in Richtung der Puppe. Als Antwort bekam er nur einen starren Blick aus blauen Augen. Was hatte er auch anderes erwartet. Dann legte er die Puppe behutsam zu den anderen Dingen.
Am zweiten Morgen erwachte Al und fühlte sich, als hätte ihm jemand den Kopf eingeschlagen. Bis tief in die Nacht hatte er geweint und Jollys Besitztümer betrachtet. Immer wieder hatte er sich Emma genommen und sie grade zu angefleht, ihm zu helfen, obwohl er wusste, dass es aussichtslos war. An diesem Tag also war er fortwährend müde und traurig und hatte kaum Kraft, sich sein Essen zusammen zu suchen. Kokosnüsse, immerzu Kokosnüsse. Er war sie langsam Leid. Seine Sinne begannen zu verschwimmen und wenn er nicht bald etwas anderes als wabbelige Muscheln und Kokosnüsse zu essen bekam, würde er noch verrückt werden. Oder war er das schon?

Am dritten Tag nach Jollys verschwinden hatte sich Al wieder auf den Weg in den geheimnisvollen Urwald gemacht. Zuerst hatte er selber nicht genau gewusst, was er dort suchte oder wollte. Vielleicht hatte er nur etwas Ablenkung gebraucht. Als das erste Dornendickicht seine Stacheln in seine Hose geschlagen hatte, hatte Al den aufkommenden Schmerz nicht gespürt, er war immer noch wie betäubt gewesen. Wenigstens war er noch soweit bei Sinnen gewesen, dass er viele Bäume auf seinem Weg mit einem spitzen Stein markiert hatte, damit er zum Strand zurückfinden konnte. Er hatte sein Zeitgefühl komplett verloren und als das, was er von der Sonne sah, direkt über ihm zu stehen schien, hatte er eine kleine Lichtung erreicht. Er wusste nicht, ob es die war, wo er einst die Bestie gesehen hatte, aber es war ihm auch egal. Es war ihm egal gewesen, ob er getötet werden würde, oder hier verhungerte. Er hatte nicht die kleinste Spur Zuversicht, dass er eines Tages seine Eltern wiedersehen würde. So saß er da, im grünen Gestrüpp des Waldes. Irgendwann, die Sonne hatte ihren Winkel um einiges verändert, hatte er angefangen, den Geräuschen des Urwaldes zu lauschen. Ihm viel auf, wie viel Leben es hier gab. Über seinem Kopf hatten die Vögel gekreischt, die Affen gebrüllt und die Frösche gequakt. Irgendwann kam ein kleines Tier auf die Lichtung gehoppelt. Es war das grüne Kaninchen. Wie schon bei ihrer ersten Begegnung hatte es ihn schief angesehen. Doch diesmal war sein Blick viel tiefer und länger gewesen. Al hatte plötzlich das Gefühl gehabt, das dieses Wesen unglaublich intelligent war. Das es dasselbe war, wie bei seiner Ankunft in dieser verfluchten Welt, daran hatte er keine Zweifel.
Nach einer Weile hatte es sich ihm genähert. Auch diesmal schien es keine Angst verspürt zu haben. Es hatte sich an Als überkreuzte Beine geschmiegt und ihm erlaubt, es zu streicheln. Schon nach kurzer Zeit hatte er bemerkt, wie ein wohliges Gefühl in ihm Aufstieg. Mit der Zeit hatten sich sowohl sein Körper, als auch Inneres sich entspannt.
Als die Sonne kaum noch zu sehen war, war Al aufgestanden, um im spärlichen Licht seine Markierungen zu finden. Das Kaninchen hatte er auf der Lichtung zurückgelassen, doch als er einmal stehengeblieben war, um einen Baum nach seiner Kennzeichnung abzusuchen, hatte er gespürt, wie ihn etwas an sein Bein stupste. Er war herum gefahren, auf alles gefasst, doch es war nur das grüne Kaninchen gewesen, das ihn mit seinen Hörnchen berührt hatte. Es hatte zu seinen Füßen gesessen und ihn aus seinen schwarzen Augen vorwurfsvoll angeblickt, als hatte es sagen wollen Ich bin es doch nur! Das hättest du dir aber auch denken können! Al war in die Hocke gegangen. „Willst du mit, Kleiner", hatte er gefragt. Wie auf Kommando war es daraufhin auf seinen Schoß gesprungen. Al hatte es auf den Arm genommen. Es war schwerer, als er erwartet hatte. So war er nun mit dem Kaninchen das letzte Stück durch den immer dunkler werdenden Dschungel gelaufen und erreichte sein Lager, als die Sonne als rotglühender Feuerball über dem Wasser stand.
Er hatte sich an den Strand gesetzt und über das wollige Fell des Kaninchens gestrichen. „Du brauchst einen Namen", hatte er ihm leise zugeflüstert. Es hatte seinen Kopf zu Als Gesicht gedreht. Wieder war es dieser Blick gewesen. Al hatte lange überlegt und als er gemeint hatte, einen gefunden zu haben, blickten die Sterne auf ihn herab. „Josie", sagte er. Der Name erinnerte an Jolly, denn seine neue Freundin nach seiner Schwester zu benennen, hatte er nicht über sich bringen können. „Es bedeutet Gott möge vermehren.", fuhr er fort. „Denn es sollte mehr Wesen geben die so sind wie du." Josie hatte ihn angesehen, als hätte sie verstanden, und ihren Kopf fest gegen seinen Bauch gepresst.
Als Al am vierten morgen aufgewacht war, hatte er mit dem Kopf im Sand gelegen, nicht, wie üblich auf seinem Lagerplatz aus Palmwedeln. Er hatte ein Gewicht auf seiner Brust gespürt und als er aufblickte, hatte dort Josie gelegen. Ihre Augen waren geschlossen gewesen. Vorsichtig hatte Al sie angehoben und zu seiner Schlafstelle gebracht. Nachdem er sich sein Frühstück zusammengesucht hatte - wie jeden Morgen Kokosnüsse - hatte er auch der inzwischen putzmunteren Josie etwas von dem weißen Fruchtfleisch angeboten. Sie hatte daran geschnuppert und dann ein Wenig probiert, doch dann zog sie es lieber vor, einer Palme die Rinde abzuknabbern.
Den ganzen Tag hatte Al das seltsame Kaninchen beobachtet, gestreichelt und mit ihm geredet. Er hatte das Gefühl gehabt, von ihr verstanden zu werden. Wie immer blickte sie ihn aus tiefen, schwarzen Augen an und Al war sicher gewesen, das wenn sie hätte sprechen können, ihm geantwortet hätte. Er konnte die Intelligenz des Tieres nicht genau abschätzen, aber sie war gewiss klüger als alle anderen Tiere, vielleicht auch alle Menschen, denen er je begegnet war, da war er sich sicher.
Nun war der der fünfte Tag angebrochen und immer noch gab es keine Spur von seiner Schwester. Es war dringend nötig, dass Al sich wieder wusch, das letzte Mal, dass er dies getan hatte, war am Tag von Jollys Verschwinden gewesen. Mithilfe seiner Nase stellte er fest, dass ein Bad wirklich notwendig war. Trotzdem war er unsicher. In diesem Meerwasser war Jolly ertrunken, gefressen oder sonst wie getötet worden. Al ließ sich unschlüssig neben Josie in den warmen Sand fallen. Er blickte an sich herunter. Seine Hose war von Dornen zerrissen, genauso sein Hemd. „Ich sehe so aus, wie man sich einen Schiffbrüchigen vorstellt, oder?", fragte er das Kaninchen schmunzelnd. Ja, sagten Josies Augen. Und genauso riechst du auch, fuhren sie glitzernd fort. Al fragte sich, ob er all diese Dinge wirklich aus ihren tiefschwarzen Augen las, oder ob er sie sehen wollte. Er wusste keine Antwort. Auf seine Frage hin, ob er sich säubern sollte, erhielt er keinen Rat, trotz Josies innigen Blickes. Schlussendlich entschied er sich, wenn auch innerlich widerstrebend, dafür, schwimmen zu gehen.
Josie sah ihm vom Strand aus zu, als er vorsichtig einen Fuß in die Brandung setzte. Sein ganzer Körper war angespannt, als würde er erwarten, dass die Wellen ihm in die ohnehin schon zerkratzten Beine bissen.
Seine Kleidung hatte er anbehalten, auch ihnen konnte eine Wäsche nicht schaden. Vorsichtig setzte er sich in die Wogen. Er spürte, wie seine Hose das Wasser aufsog, und immer schwerer wurde. Schließlich legte er sich ganz ins warme Meer. Es umspülte seinen Körper, und feine Sandkörner rieben an seiner Haut entlang. Er grub die Finger in den Boden und schob sich langsam weiter ins Wasser, bis nur noch seine Fingerspitzen den Grund spürten. Er trieb auf den Wellen immer weiter und spürte förmlich wie aller Dreck und mit ihm die tagelange Anspannung von ihm abfiel.

Bermuda  *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt