Kapitel 14

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Lauren

Ich starre auf den Rasen, als würde ich nach irgendetwas suchen. Etwas, an dem ich mich festhalten kann und das mich nach oben zieht. Alle sehen mich an, als wäre ich ein Tier im Zoo und auch wen sie glauben, dass ich sie nicht höre, höre ich ihr Getuschel. Das ist nicht das schlimme. Das schlimme ist, dass wieder ein Jahr um ist und ich wie jedes Jahr extreme Flashbacks bekomme. Ich denke sonst nie über mein Leben nach, außer an Silvester. Und jetzt muss ich auch noch mit irgendwelchen Firmaleuten rumhängen, die sich besser als man selbst fühlen.  Ich fühle mich so unendlich müde. Eine Träne kullert meine vom Abendwind kalte Wange herunter und unbewusst fühle ich an eine Stelle an meiner Schläfe. Ich spüre deutlich die Umrisse einer Narbe, nicht größer als eine Fingerkuppe, aber trotzdem schmerzt der Gedanke daran immer noch. Ich versuche mich mit irgendetwas abzulenken. Mein Blick schweift über den frisch gemähten Rasen, doch die Gedanken bleiben, bis ich aufhöre zu versuchen sie zu vertreiben. Tränen laufen ungebremst meine Wangen hinunter, still und leise, wie als würden sie nicht da sein. Aber das sind sie. Seit wann hatte ich nicht mehr geweint? Wahrscheinlich war es, als es das erste Mal passiert ist. Nein. Das letzte Mal habe ich geweint, als ich beschlossen hatte, dass ich stark bleiben müsse. Für meine Geschwister, die noch viel zu jung waren, um das alles mitzuerleben. „Lauren“ holt mich eine Stimme aus den Gedanken, doch ich rühre mich nicht. Ich weiß, dass es Jason ist und ich hoffe, dass er sich einfach wieder umdreht und weggeht. Aber das tut er natürlich nicht. Stattdessen setzt er sich neben mich und legt vorsichtig seine Hand auf meine Schulter, während ich mein Gesicht in meinen Händen vergrabe. „Was ist los?“ fragt er und ich schüttel leicht den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass er mich einfach allein lassen soll. Aber das tut er wieder nicht. Er wartet darauf, dass ich irgendetwas sage.

„Hab ich dir je erzählt, was mit meinem Vater war?“ frage ich ihn und richte mich auf, sodass ich ihm direkt in die Augen sehen kann. Für einen Moment sieht er überrascht und besorgt aus, bis er sich wieder fängt und meine Frage mit einem Kopfschütteln beantwortet. „Mein Vater“ beginne ich, aber Jason unterbricht mich sanft, „du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht willst“ sagt er besorgt und ich sehe ihn dankbar an. „Ich will aber. Ich muss es jemanden erzählen“ erwidere ich leise und sehe auf den Rasen, bevor ich beginne alles zu erzählen.

„Es hat alles damit angefangen, dass mein Vater seinen Job verloren hat. Für ihn ist damals eine Welt zusammengebrochen. Er hatte diesen Job geliebt und es war sein Traum gewesen. Ich war damals 12 gewesen und wir lebten alle zusammen in einer Wohnung in Brooklyn. Sie war nicht luxoriös, aber jeder hatte sein eigenes Zimmer. Nachdem mein Vater seinen Job verloren hatte, verschwand er für eine Weile. Sahra hatte sich riesige Sorgen gemacht, bis er dann nach einer Woche wieder auftauchte mit einer Flasche in der Hand und schwankend. Er hat sich darauf mit Sahra gestritten. Heftig gestritten und ist danach wieder abgedüst. Damit hatte alles angefangen. Er kam spät Abends wieder, komplett betrunken und aggressiv. Den Morgen hat er durchgeschlafen, bis er am Mittag wieder loszog. Das ganze ging dann ein paar Monate lang und es wurde immer schlimmer. Er wurde immer aggressiver und Sahra ist Abends dann irgendwann immer in ihr Zimmer, sodass sie ihn nicht sehen musste. Ich habe nicht wirklich verstanden was passiert ist, aber es hatte Sahra fertig gemacht, er hatte Sahra fertiggemacht und ab da habe ich ihn gehasst. Dafür, dass er sie so unglücklich gemacht hatte. Er hat immer nach Sahra und mir gerufen, damit wir ihm helfen die Treppe hoch zu gehen und aus… Mitgefühl oder auch Angst tat ich es immer. Ich meine er war ja immer noch mein Dad? Eines Abends hat er mich dann angeschrien und seine Hand ist ihm rausgerutscht. Ich habe es sofort Sahra gesagt, aber anstatt etwas zu unternehmen, hat sie mich nur müde angelächelt und mir einen gute Nacht Kuss gegeben. Es wurde immer schlimmer und er hat immer öfter zugeschlagen, während er mich anschrie, wie dumm und unnützlich ich doch sei. Das ich nie wichtig werden würde und das er enttäuscht von mir war. Anfangs bin ich noch zu Sahra gegangen, aber sie hat nie wirklich etwas unternommen. Und von da an, habe ich es gelassen. Ich habe nur noch still für mich geweint und mich versucht so oft, wie möglich bei Grace einzuschläusen, um bei ihr zu übernachten. Ich habe ihr nicht gesagt warum, aber sie war immer für mich da und hat mich getröstet. Doch es wurde noch schlimmer. Eines Abends hörte ich die Haustür bereits noch am frühen Abend aufgehen und er kam wie immer sturz besoffen und komplett außer Kontrolle ins Wohnzimmer gewankt. Alle waren noch wach. Ich war 13, Hailey 11,Simon 9 und Ava 5. Sahra war bereits schlafen. Er hat wild rumgeschrien und ist dann… ist dann auf Simon und Hailey losgegangen. Als er sie dann geschlagen hat, bin ich völlig ausgetickt und auf ihn losgegangen. Ich habe ihn angeschrien und er mich, bis er mich fest ins Gesicht geschlagen hat und gesagt hat, ich solle weggehen. Aber ich bin stehen geblieben, vor meinen Geschwistern, um sie vor dem Menschen zu beschützen, der einmal mein Vater war. Also ist er endgültig ausgerastet und hat mich gewürgt und gegen den Tisch geworfen, und danach abzuhauen. Ich wurde fast sofort bewusstlos und wachte im Krankenhaus wieder auf. Ich habe immer noch die Narbe. Das ging dann weiter, bis es irgendwann zu viel wurde und ich ihn mit Hilfe von Grace Mutter angezeigt habe“ beende ich und sehe zu Jason, der mich einfach nur ansieht, bevor er sich vorbeugt und mich in den Arm schließt.

Die Tränen laufen wieder meine Wangen herunter und ich bin mir nicht sicher, seit wann sie es tun oder ob sie irgendwann mal aufgehört haben. Ich schluchze laut auf und klammere mich an Jason, der mir beruhigend über den Rücken streicht. „Es ist so schwer immer für alle da zu sein“ flüstere ich und Jason versucht mich weiter zu beruhigen. „Ich weiß, aber das was du getan hast ist so viel mutiger, als das was ich nach dem Tod meiner Mum getan habe. Du hast nie aufgehört zu kämpfen und alles dafür getan, dass es deinen Geschwistern gut geht. Ich löse mich von ihm und versuche meine Tränen zu trocknen. „Wie soll ich denn da so reingehen?“ frage ich und Jason lacht kurz sein ehrliches Lachen, was mich zum Lächeln bringt. Er lacht nicht oft. Eigentlich nie. Zumindest nie bei anderen. „Ich  sage einmal etwas süßes und das erste was du mich fragst ist, wie du dein Make-up wieder richten kannst“ fragt Jason lachend und ich lächle ihn leicht an. „Ich muss doch mein Ruf schützen“ schmunzle ich, was Jason zum Schnauben bringt, „deinen Ruf kann man nicht mehr retten, falls er irgendwann mal da war“ schnaubt er und ich sehe ihn gespielt schockiert an. „Du blödes Arschloch“ lache ich und haue ihn leicht auf seinen Hinterkopf, den er sich sofort hält, als würde er weh tun.

Sein Grinsen verrät ihn und ich verdrehe gespielt genervt die Augen, „sei kein Mädchen“ sage ich und dieses Mal sieht er mich gespielt schockiert an, während wir beide breit Lächeln. „Du kannst etwas erleben!“ ruft er und automatisch springe ich auf und laufe lachend weg, während er mir nachsetzt. Tatsächlich ist er schneller, was wahrscheinlich an den beschissenen High Heels liegt und dreht mich triumphierend in der Luft, während ich anfange heftig zu lachen. Als er mich runter lässt, rutsche ich fast auf den Schuhen aus, doch zwei starke Hände halten mich vom Fallen ab. „Hab dich“ flüstert Jason grinsend und ich kann nicht anders als zurück zu lächeln. „Danke“ flüstere ich ehrlich, aber er lächelt nur, „mach ich gerne“ erwidert er mindestens genau so leise, wie ich. Mir fällt erst jetzt auf, wie nah wir uns stehen und uns nur noch wenige Zentimeter trennen. Wir sehen uns immer noch lächelnd in die Augen und ich verliere mich in seinen strahlend blauen Augen, die im Mondschein glänzen. Plötzlich startet das Feuerwerk und die Gesellschaft im Saal jubelt laut.

„Frohes neues Jahr“ flüstere ich lächelnd, „dir auch“ flüstert Jason, aber hält mich immer noch fest. Langsam kommt er fasst unsicher meinem Gesicht mit seinem näher und überwindet die letzten Zentimeter, während er seine Lippen auf meine legt. Der Kuss ist sanft, viel sanfter, als man es von ihm erwarten würde und ich erwidere ihn zögerlich. Was danach passiert ist unbeschreiblich. Ein Kribbeln löst sich in meinen Bauch aus und ein Gefühl der Wärme. Ich schließe meine Augen und vertiefe mich etwas in den Kuss. Der Moment ist wieder vorbei, als wir uns voneinander lösen und etwas Abstand nehmen. Meine Gedanken schalten sich langsam wieder ein.

Shit. Ich habe gerade meinen Stiefbruder geküsst. Shit, shit, shit. Jason sieht mich lächelnd an, „das musste ich tun“ flüstert er mit einem Lächeln und ich kann nicht anders, als es zu erwidern, bevor wir langsam zum Saal zurück spazieren.
Jason und ich können uns noch rechtzeitig voneinander entfernen, bevor wir jeweils von Phil und Hailey mitgezogen werden. „Wo warst du bitte? Wir müssen los“ erklärt Hailey und zieht mich aus dem Saal. Sie hat ein Lächeln auf dem Gesicht und scheint tatsächlich fröhlich zu sein. Sie übersieht, dass Silvester immer der schlimmste Tag war und schafft es irgendwie darüber hinweg zusehen. Zumindest tut sie so.

Ich fahre wieder das Auto und sie vergeht schneller als gedacht. Es ist während der Fahrt nicht still, aber wenn man genau hinhört merkt man, dass jeder eigentlich lieber Schweigen will. Als wir im Haus sind ist es gerade mal kurz nach Mitternacht, aber trotzdem geht jeder erschöpft ins Bett. Ohne wirklich mit den Gedanken anwesend zu sein ziehe ich mir das unbequeme Kleid aus und tausche es gegen ein Nachthemd, bevor ich mich in mein Bett schmeiße und sofort einschlafe.

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Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen :) Lasst doch ein Vote und ein Kommentar da, wenn es euch gefallen hat und teilt die Geschichte✨

Hättet ihr vielleicht mal Lust auf eine Lesenacht, also das ich zwei Kapitel so um 20 und 20:30 Uhr hochlade? Egal mit welcher Geschichte🤔

Hab euch lieb❤️
Ciao,
amaliaflower

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