Familie

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Als wir wieder zur Eingangshalle kamen, stand auf der anderen Seite der Treppe ein Mann, der offensichtlich Leifs Bruder war. Seine Kleidung war sehr viel aufgetakelter, als ich es bei Leif je gesehen hatte und selbst wenn die Haare gestylt waren, konnte ich die Ähnlichkeit mit Leif nicht verneinen.
„Hey Gawain!", rief Leif hinüber und der Angesprochene blickte zu uns herüber. Sein Gesichtsausdruck war emotionslos und er nickte kurz.
„Ich glaube ich hatte dir gesagt, dass Gawain nicht mit mir redet", flüsterte Leif mir zu und ich nickte. Da wir ignoriert wurden, ignorierten wir auch Gawain und liefen die Treppe herunter.
Unten standen weitere Personen und von dem, was Leif mir erzählt hatte, waren auch sie irgendwie mit ihm verwand, aber da er niemanden grüßte und er auch nicht grüßte, schlichen wir uns an ihnen vorbei, hinüber in den Speisesaal. Und was für ein Saal das war.

Zwei lange Tafeln, bereits gefüllt mit Speisen, standen in dem Raum und mir kam es vor, als wäre ich auf einen fünfzigsten Geburtstag geraten, für so viele Personen war gedeckt.
„Leif! Und du musst Sumi sein!", kam ein weiterer junger Mann auf uns zu. Er hatte Leifs Ohren und selbst wenn der Farbton ein anderer war, so teilten die beiden sich die gleichen wirren Haare. Ich nickte und er schüttelte mir die Hand: „Ich bin Sol, Leifs Bruder."
„Freut mich", antwortet ich eingeschüchtert.
„Ich bin so froh darüber, dass Leif endlich jemanden gefunden hat. Wir hatten schon darüber nachgedacht, ob er der Familie jemals nützlich sein würde", meinte Sol. Ich warf einen skeptischen Blick zu Leif hinüber, der sich einen grinste.
„Sol, wo dürfen wir uns setzten?", schaltete sich Leif ein, als hätte er den letzten Kommentar gar nicht gehört.
„Am Ende vom Haupttisch, gegenüber von Landa und Gawain und neben Delci und mir."
Leif pfiff leise und meinte leise zu mir: „Durfte schon seit Jahren nicht mehr am Haupttisch sitzen."
„Die Leute müssen ja viel von mir halten", ich grinste und Leif nickte, bevor er mich zum linken Tisch zog. Am Ende der Tafel, das am weitesten von der Eingangstür entfernt war, stand ein großer, fast thronartiger Stuhl und insgesamt war dieser Tisch etwas mehr dekoriert als der andere.
„Dort oben sitzt das Haupt der Familie, mein Ururgroßvater. Wahrscheinlich wird der Platz aber frei bleiben – heute wie morgen – er ist so alt, dass er inzwischen sein Zimmer kaum noch verlässt, wenn ich mich nicht irre." Wir blieben aber am anderen Ende und setzten uns nebeneinander an die lange Tischseite. Ich saß ganz außen, neben mir Leif und neben diesem ein blonder Junge, der seine Hände unter dem Tisch knetete.
„Hey Delci", begrüßte Leif ihn und der angesprochene grüßte kurz zurück. „Darf ich dir meine Partnerin vorstellen? Das ist Sumi." Nun begrüßten wir uns und ich fühlte mich dabei unglaublich fehl am Platz. Ich hätte auch gerne meine Hände geknetet, doch da Leif immer noch meine Hand hielt, konnte ich das schlecht machen. „Delci gehört zu Sol und ich glaube ihr würdet euch blendend verstehen, wenn ihr ins Gespräch kommen würdet", erklärte mir Leif und ich nickte betreten.

Unsicher schaue ich mich etwas um: ein großer Teil der Leute hatte sich inzwischen gesetzt, doch niemand machte auch nur eine Anstalt, nach dem aufgestellten Essen zu greifen. Auch die Gläser waren noch nicht befüllt, doch noch gab es auch keine Getränke, die man sich nehmen konnte.
Neben mir erhob sich Leif plötzlich und verwirrt schaute ich erst ihn an, dann die Person, die er anschaute.
„Mutter", grüßte er trocken.
„Leif", kam genauso trocken zurück. Leifs Mutter war hochgewachsen und sah kein Tag über fünfunddreißig aus, selbst wenn mir bekannt war, dass das nicht ihr Alter sein konnte.
„Darf ich dir meine Partnerin vorstellen: Sumi."
Ich erhob mich eilig und streckte die Hand aus, doch noch bevor ich richtig stand, hatte Leifs Mutter bereits mein Gesicht gepackt und drehte es skeptisch von einer Seite zur anderen. Ihr Griff war unangenehm hart und ich musste mich wirklich am Riemen reißen, dass ich nicht vor Schmerzen das Gesicht verzog. Genauso wortlos wie zuvor ließ sie mich wieder los und wahrscheinlich wäre ich zurück gestolpert, hätte Leif nicht unauffällig seine Hand in meinen Rücken gelegt. Sie nickte und lief weiter. Mit einem leisen Seufzen ließ sich Leif fallen und verwirrt setzte ich mich ebenfalls wieder, mein schmerzendes Gesicht reibend.
„Entschuldigung, meine Mutter ist manchmal...", begann Leif und brach ab, als er kein passendes Wort fand.
„Eiskalt", murmelte Delci neben ihm und Leif zeigte auf Delci um mir zu zeigen, dass es das auch in seinen Augen gut traf.
„Mach dir nichts draus, wahrscheinlich werden ihr beide eh keinen Kontakt mehr haben."
„Ist dein Vater genauso?", fragte ich. Leif lachte kurz auf: „Mein Vater ignoriert mich noch mehr als Gawain. Wenn einer von beiden dich kennt, dann reicht das."
„Nette Familie", murmelte ich leise und Leif legte seine Hand wieder auf meine. Kaum sprach man vom Teufel, setzte sich Gawain mit seiner Partnerin uns gegenüber. Sie war genauso aufgetakelt wie er, in eine Wolke Parfüm gehüllt und mit gefühlt 10 Lagen Make-Up versehen. Ich verabscheute sie jetzt schon.
Gawain musterte mich etwas und entschied sich dann anscheinend dazu, dass ich gut genug bin, damit er mit mir sprechen kann. Er streckte mir seine Hand aus: „Mein Name ist Gawain und das ist meine Partnerin Landa. Du bist Sumi, korrekt?"
Unsicher nickte ich und schüttelte seine Hand.
„Ich bin froh, dass du dich meinem Bruder angenommen hast. Vielleicht bringst du ihn dazu, dass er sich etwas mehr benimmt", meinte Gawain und für einen Moment hatte ich das Gefühl, ich würde immer noch mit Sol sprechen.
„Wir werden sehen", antwortete ich schulterzuckend.
„Man kann es nur hoffen. Es wäre gut, wenn die Familie nicht so von ihm geschädigt werden würde."
Es störte mich sehr, dass Gawain von Leif sprach, als wäre er nicht da und ich wollte ihm das eigentlich auch so sagen, doch Leif drückte meine Hand und malte mit einem Finger ein ‚X' auf mein Bein. Also zuckte ich nur mit den Schultern und Gawain sprach weiter: „Es hat lange genug gedauert, dass er diesen Schritt gemacht hat. Man kann sich nur fragen, was ihn jetzt dazu bewegt hat."
Mit finsterer Miene und nur für Leif zu hören flüsterte ich: „Man könnte ja die hier anwesende Person direkt fragen..." Wieder drückte mir Leif die Hand.
„Die legendenumwobene Frau, die den einsamen Wolf dazu gebracht hat, sie niederzulassen", meinte plötzlich eine Frau, die sich neben Gawain niederließ. „Was ist dein Geheimnis?"
„Was?", fragte ich, bevor ich überhaupt wusste, was sie genau meinte – oder wer sie war.
„Ihr Geheimnis ist, dass sie das genaue Gegenteil von euch allen ist", antwortete Leif für mich. „Sumi, das ist Milena." Ich nickte; seine Schwester, wie vermutet. Die bösen Blicke von Leifs Geschwistern – und den Belustigten von Delci – ignorierte er gekonnt.
Bevor irgendwelche Kabbeleien ausbrechen konnten, trat eine weitere Person an den Tisch heran. Er streckte mir seine Hand entgegen und stellte sich, während dem Händedruck vor: „Ilias". Und damit hatte ich das Set voll. Ilias setzte sich neben Milena und kurz darauf wurde es still im Saal. Fast alle Gäste hatten sich hingesetzt, beziehungsweise taten es jetzt, als zwei Personen hereinkamen. Ein Mann, dem Aussehen nach vielleicht vierzig und eine ältere Frau, vielleicht Mitte 60. Im ersten Moment dachte ich, die beiden wären ein Paar, doch leise klärte mich Leif auf: „Mein Vater und seine Mutter. Sie sind die beiden hochrangigsten Personen in der Familie, die noch auftreten. Es gibt zwei noch höhere, aber die beiden kriegt man seltenst zu Gesicht." Gawain und Landa warfen Leif einen bösen Blick zu, der jedoch ignoriert wurde.
Mutter und Sohn gingen zur Stirnseite des Haupttisches und Leifs Vater half seiner Mutter sich zur linken Hand des großen Sessels zu setzten. Er selbst setzte sich neben sie, wodurch der Thron selbst und der Platz zu dessen rechten frei blieben. Kaum saßen sie, kamen zwei Personen hervor – eine davon Radiv, die begannen Wein einzuschenken. Still war es im Saal und alle Augen waren auf die beiden Ausschenker gerichtet, wie sie je auf einer Seite des Tisches, alle Gläser auffüllten. Wessen Glas gefüllt war, begann sich zu Essen zu nehmen, wobei auffiel, dass selbst als ganz vorne bereits zu essen begonnen wurde, warteten alle Weinlosen noch. Ich war in diesem Moment heilfroh, dass ich mich vom Verhalten her einfach an Leif halten konnte, selbst wenn ich weiterhin Angst hatte, etwas falsch zu machen und die Wut von allen Anwesenden auf mich zu ziehen. Ich war also das komplette Mahl über angespannt und sprach selbst kein Wort, sondern hörte nur den Gesprächen um mich herum zu. Ilias und Melina sprachen leise miteinander, Gawain und seine Freundin lästerten über alles und vor allem über Leif und Leif selbst unterhielt sich mit Delci und Sol. Je länger ich Sol zuhörte, desto weniger mochte ich ihn. Er schien zwar im ersten Moment nett, doch zu oft machte er Witze über gewalttätige Sachen, bei denen sich meine Zehennägel aufrollen wollten.
Das Essen selbst war gut, aber nicht überwältigend. Es gab verschiedene Fleischsorten, Gemüse und einiges an Salat. Das Fleisch war meiner Meinung nach zu blutig, aber ich bezweifelte, dass das die anderen Gäste störte. Ich aß nicht viel und je länger ich vor dem Essen saß und vor allem Sol zuhörte, desto weniger Appetit hatte ich und desto weniger wollte ich auch je wieder etwas essen, also stocherte ich ewig auf meinem Teller herum.

Ilias verabschiedete sich kaum hatte er seine Portion gegessen und bald folgten ihm andere Gäste vom Nebentisch. Milena beteiligte sich daraufhin am Gespräch von Leif, Delci und Sol. Ich wartete nur darauf, dass Leif sein Glas austrank, bis ich ihn fragen konnte, ob wir auch gehen konnte, doch Leif war in das Gespräch vertieft. Es war einer der wenigen Momenten, in denen ich mich unwohl neben Leif fühlte. Nach einiger Zeit erhob sich Milena ebenfalls und klopfte auf den Tisch: „Ich habe noch eine Verabredung", grinste sie und verließ uns.
„Leif, ich geh auch", meinte ich leise zu ihm.
„Geht es dir nicht gut?", fragte er plötzlich besorgt. Ich zuckte nur mit den Schultern und erhob mich.
„Ich komm mit", beschloss er und verabschiedete sich von den anderen. Stumm nickte ich ihnen nur zu und zusammen verließen wir den Saal.
Im Gang war die Luft kühler und nicht so verbraucht und ich hatte das Gefühl, dass ich langsam wieder atmen konnte. Trotzdem blieb ich verkrampft und wollte am Liebsten jetzt schon nach Hause. Ob ich das einen ganzen Tag aushalten würde, glaubte ich kaum.

„Was ist los?", fragte Leif nochmal, als wir durch die stillen Flure gingen.
„Zu viele Leute", murmelte ich.
Leif berührte mich an der Schulter, doch ich wich vor ihm zurück – er hatte mich vor dem Essen genug berührt und so fremd, wie er mir gerade vorkam, wollte ich es gleich zweimal nicht.
Als wir das Zimmer betraten, ging ich sofort hinüber zu meiner Tasche um mein Buch herauszunehmen.
„Sumi, bitte", hörte ich Leif, der an der Tür stehen geblieben war.
„Ich will nach Hause. Es fühlt sich so falsch an, dass ich hier bin. Alles ist so edel. So falsch und so fremd. Ich gehöre hier nicht her."
„Du weißt also, wieso ich hier unbedingt weg wollte."
Ich nickte: „Aber selbst du. Du kennst das hier. Die Leute, die Bräuche, das Gebäude. Für mich ist das alles unbekanntes Gebiet. Ich habe Angst, dass ich plötzlich etwas falsch mache, weil ich es nicht anders weiß zu tun. Bei dem Essen eben hatte ich mehr und mehr das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und auch jetzt finde ich kaum Halt", ich blickte auf das Buch, das ich inzwischen in meinen Händen hielt und an das ich mich festklammerte. Leif sagte nichts und das war besser so. Jeden Schritt vorsichtig setzend, als könnte plötzlich der Boden unter mir einbrechen, ging ich hinüber zu einem der Sessel und setzte mich. Dann schlug ich das Buch auf und flüchtete mich in eine Welt, in der ich mich auskannte.

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