Vorabend einer Klausur

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Wenn wir uns spät nachts voneinander trennten um heimzugehen, war die Welt anders.
In einem Wohngebiet sah man dann nur noch wenige Lichter brennen und der Sternenhimmel konnte einem endlos und so nah erscheinen. Ich liebte die Stille, die sich über alles gelegt hatte, wie eine Decke. Nur noch selten begegnete man einer anderen Seele, wodurch es mir vorkam, als würde mir die ganze Welt gehören.
Ich mochte diese Gefühle. Sie halfen mir in der kühlen Nachtluft nachzudenken und meine Gedanken zu ordnen, wenn ich mit niemanden reden konnte, und brachten mir gleichzeitig Möglichkeiten und Ideen, an die ich vorher meist nicht gedacht hatte.
Zu dieser Uhrzeit erwartete ich auch nicht mehr, dass Sumi wach war. In die Wohnung einzutreten, die zwar still vor mir lag, aber trotzdem belebt war, war etwas, das ich angefangen hatte zu lieben, da, wenn ich früher nachhause kam, meine Familie meist selbst noch unterwegs gewesen war.
Als ich heute jedoch die Wohnungstür aufschloss brannte noch Licht in Sumis Zimmer. Scheinbar wollte mein Schicksal, dass ich heute nochmal mit ihr sprach und nicht erst morgen. Ich unterdrückte einen Seufzer und putze meine immer noch nackten Füße notdürftig am Eingangsteppich ab.
Die Kaffeemaschine schien noch in Benutzung, was mich wunderte, da Sumi nicht schlafen konnte, wenn sie welchen getrunken hatte und sie spätestens gegen zehn aufhörte ihn zu trinken. Leise näherte ich mich ihrem Zimmer und stieß lautlos die angelehnte Zimmertür auf.
Sumi saß an ihrem Schreibtisch und damit zur Wand gedreht, weshalb sie mich nicht bemerkte. Neben ihr stand eine Tasse und eine Packung mit Tabletten – Schmerztabletten, wie ich vermutete. Um sie herum am Boden verteilt lagen ein Dutzend Karteikarten mit Notizen, Namen und Definitionen von einem ihrer Studienfächer, dessen Klausur noch anstand. Ihr Handy hatte sie irgendwann auf ihr Bett geworfen, wo es halb unter ihrem Kopfkissen liegen geblieben war und einsam blinkte. Sumi selbst hatte ihre Beine angezogen und wiegte sich leise murmelnd vor und zurück. Sie hielt sich die Ohren zu und hatte ihr Kinn hatte auf ihre Knie gelehnt.
Ihr Anblick war für mich wie ein Schlag ins Gesicht, vor allem da ich sie noch nie so niedergeschlagen und verzweifelt gesehen hatte. Egal wie schlimm und hilflos sie vielleicht am Vortag ausgesehen haben mochte, in diesem Moment bot sie einen Anblick von so purer Verzweiflung, als würde sie nie wieder glücklich werden können.
Vorsichtig klopfte ich an ihre Tür, in der ich immer noch stand, in der Hoffnung sie würde es hören, doch sie reagierte nicht. Zögernd machte ich einen Schritt nach vorne. Selbst wenn ich nicht wusste, was ich tun sollte, damit sie sich beruhigte, wollte ich doch etwas tun.
Ich machte einen weiteren Schritt nach vorne, als sie plötzlich in einer schnellen Bewegung eine weitere Karte auf den Boden feuerte. Ich sammelte die Karten ein und schaute auf deren Beschriftung. Meine Vermutung wurde bestätigt: sie lernte für die letzte Klausur in dem Semester und sie hatte mir mehrfach erzählt, wie fertig sie diese machte und wie schwer ihr dieser Kurs fiel. Einige der Karten waren fleckig und ich war mir nicht ganz sicher, ob Tränen oder Wasser dafür verantwortlich war.
Ich trat hinter Sumi und legte die Karten neben sie auf den Tisch, wobei ich leise meinte: „Vielleicht hast du genug für heute getan."
„Lass mich in Ruhe", ihre Stimme klang gedrückt und sie schlug meine Hand von den Karten: „Wenn ich das nicht kann, falle ich durch."
„Aber du kannst nichts lernen, wenn deine Nerven blank liegen", entgegnete ich ruhig.
„Das geht dich nichts an", sie griff zu der Tasse und wollte einen Schluck nehmen, doch ich nahm sie ihr aus der Hand und stellte sie zurück auf den Tisch. Ich drehte ihren Stuhl herum und ging vor ihr in die Knie: „Du solltest dich ausruhen, damit du wieder zu Kräften kommen kannst. Du schadest dir nur selbst, wenn du dich weiter quälst und ich werde das nicht mitansehen."
„Dann geh", ihre Augen waren gerötet und eingefallen. Tränen klebten an ihren Wangen. Ich schüttelte stumm den Kopf und griff vorsichtig nach ihren Händen. Sie wehrte sich nicht.
„Was ist los?"
„Ich kann das nicht."
„Ich werde dir nicht glauben, dass du dich nur wegen deinem Unizeug so fertig machst. Was ist los?"
Sie wollte sich abwenden: „Mir geht es heute einfach insgesamt nicht gut."
Ich muss ihr wohl jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen, dachte ich und entschied mich dafür einen kleinen Umweg zu ihr zu nehmen.
„Hast du was gegessen?"
Sie nickte: „Ein wenig."
„Das ist gut", murmelte ich, selbst wenn mir klar war, dass „ein Wenig" bei ihr so viel bedeutete, wie den ganzen Tag nicht viel mehr als eine Scheibe Toast. Ich hab die Hand und wollte ihr die Tränen aus dem Gesicht wischen, während ich fragte: „Willst du jetzt noch etwas?"
Sie zog ihre Hände zurück und drehte den Kopf weg, bevor ein plötzliches Feuer in ihren Augen aufflackerte: „Was wird das?" Die Frage war das verbale Äquivalent des Wegschubsens und ich prallte etwas zurück. Verwirrt schaute ich sie stumm an.
„Was soll das? Was tust du hier? Warum interessiert es dich so plötzlich was mit mir ist? Warum passiert mir dieser ganze Vampirscheiß?! Was erwartest du von mir, dass ich jetzt tue?"
Die Fragen schlugen auf mich nieder wie Regen auf das zarte Blatt einer Blume und ich brauchte einen Moment um mich wieder zu fangen. Schweigend musterte ich sie für einen Moment länger als nötig, dann fragte ich wieder: „Was ist los?"
Sie schlang ihre Arme um die Beine und so leise, dass selbst das Rauschen einer Lüftung sie übertönt hätte, murmelte sie: „Ich kann das alles nicht."
Hinter ihrer Aussage steckte so viel mehr als das einfache „Ich kann das Unizeug nicht" und es hätte wenig Sinn gemacht, sie zu fragen, was sie nicht konnte. Irgendwie wusste ich ja, was sie nicht konnte: Sie wusste nicht, wie sich wegen den Vampiren verhalten sollte; sie war sich sicher, dass sie ihre Prüfung nicht schaffen würde und hatte Probleme in ihrer Arbeit. Zudem wusste sie nicht, wie sich mir gegenüber verhalten sollte, wobei das mehrere zuvor genannte Punkte beeinflusste. Wegen den Schmerztabletten vermutete ich zusätzlich noch, dass sie ihre Tage bekommen hatte. All das hatte sich vereint und sie sah keinen Ausweg mehr.
„Brauchst du ein offenes Ohr?", fragte sie, doch sie antwortete nicht. Stumm setzte ich mich auf den Boden und breitete die Arme etwas aus. Erwartungsvoll blickte ich sie an und für einige Augenblicke ging unsere Kommunikation im Stillen über die Bühne. Ohne ein Wort zu sagen, rutschte Sumi von ihrem Stuhl und ich schloss sie in die Arme.
Sie zitterte, wobei ich mir nicht ganz sicher war, ob das wegen einer zu großen Menge an Koffein war oder weil sie Angst hatte.
„Ich kann nicht mehr", murmelte sie, „Ich bin so müde, aber immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich mich selbst wieder in dieser Gasse liegen."
Stumm legte ich ihr die Hand auf ihre verwuschelten Haare, doch meine Berührung ließ sie zusammenzucken.
„Keine Angst, du bist in Sicherheit. Ich beschütze dich."
Sie schüttelte den Kopf: „Du kannst mich nicht vor meinen eigenen Gedanken beschützen."
„Das vielleicht nicht, aber ich kann dich ablenken", entgegnete ich nach einigen Sekunden.
„Das löst aber nichts!", rief sie und ließ ihren Kopf gegen meine Brust fallen: „Ich kann mir dadurch trotzdem den ganzen Scheiß merken oder die Schmerzen und den Schwindel vertreiben!"
„Da kann ich dir leider auch nicht helfen."
„Was kannst du überhaupt?!", sie schubste mich mit dem Kopf nach hinten und ich ließ mich nach hinten fallen, wobei ich sie mit mir zog. Ihr Körper war so warm auf meinem und langsam strich ich ihr über den Rücken.
„Du kannst doch den Stoff. Die Schmerzen sind morgen wieder vergangen. Wenn du dich bisschen schonst, vergeht auch der Schwindel. Bis dahin dahin brauchst du dir keine Sorgen machen."
„Aber ich kann das Zeug doch nicht!"
Am Boden liegend hatte ich eine andere Perspektive und entdeckte dadurch eine weitere der Karteikarten, welche unter ihre am Boden liegenden Tasche gerutscht war. Ich brauchte einige Anläufe, bis ich sie erreichte und renkte mir dabei fast den Arm aus, doch als ich sie endlich in der Hand hielt, las ich den darauf stehenden Namen vor. Sofort und ohne für einen Moment zu Stocken rezitierte sie die exakte Definition.
„Siehst du, du kannst es doch."
„Aber alles andere liegt um mich herum liegt in Scherben." Ich spürte, wie mein Oberteil feucht wurde, an der Stelle, an der sie ihr Gesicht hineingrub. Ich stich mit einer Hand langsam über ihren Hinterkopf.
„Du musst das nicht alleine durchmachen."
Sumi antwortete nicht. Es musste so viel in ihren Gedanken vorgehen, dass ich nicht erklären konnte und wahrscheinlich noch nicht einmal erahnen konnte.
„Ich bin einfach so müde", meinte sie nach einiger Zeit.
„Dann schlaf, Sumi. Ruh dich aus."
Sie nickte matt und stemmte sich langsam hoch. Ohne richtig aufzustehen schleppte sie sich hinüber zu ihrem Bett und ließ sich so hineinfallen, dass ihre Beine noch über die Bettkante ragten. Ich stand ebenfalls auf und schob ihre Beine auf die Matratze, doch kaum ließ ich sie los, rollte sie sich zu einer Kugel zusammen. Ich spürte ihren Blick auf mir ruhen, selbst wenn sie sich nicht mehr bewegte. Schweigend machte ich Schreibtischlampe aus, wobei ich für einen Moment auf sie blickte: sie sah einfach so unendlich müde und verletzt aus, wie ein angefahrenes Tier, das sich aus letzter Kraft noch von der Straße schleppen konnte.
Ich nahm die Tasse an mich und das Knacken des Schalters blieb in dem stillen Raum in der Luft hängen, sodass die Stille unangenehm wurde.
Leise verließ ich das Zimmer, doch als ich gerade die Tür schließen wollte, hörte ich Sumi: „Mach die Tür nicht zu."
Ich nickte, wissend dass sie es nicht sehen konnte und ließ die Tür einige Zentimeter offen.
„Schlaf gut", murmelte ich und wandte mich ab, um zuerst die Reste des Kaffees wegzuschütten und mich dann in mein Zimmer zurückzuziehen, wo ich noch einige Zeit mit Übersetzen verbringen wollte.

Etwas weniger als eine halbe Stunde arbeitete ich, bevor ich auf dem Weg zum Bad einen kurzen Blick in Sumis Zimmer warf. Sie lag immer noch fast genauso da, wie zuvor, mit dem unterschied, dass sie sich wieder die Ohren zuhielt.
Leise konnte ich sie wimmern hören: „Lass es aufhören. Bitte, mach, dass es aufhört. Ich kann nicht mehr. Ich kann das nicht. Hör auf."
Für einen Moment überlegte ich, ob ich es ignorieren sollte, doch ich entschied mich dagegen und betrat ihr Zimmer für ein weiteres Mal an diesem Abend. Ich kniete mich neben ihr Bett und zog vorsichtig, aber doch drängend ihre Hände von den Ohren. Sie versteifte sich bei meiner Berührung völlig, doch der kleine Kraftaufwand stellte keine Herausforderung für mich dar.
„Beruhige dich. Ich bin da. Was ist los?", fragte ich, wobei ich meine Stimme versuchte möglichst beruhigend klingen zu lassen.
Ihre Stimme zitterte, als sie tonlos antwortete: „Meine Gedanken sind zu laut und ich kann mich nicht ablenken. Es ist mir alles zu viel. Ich will hier raus."
Sie packte mich fest am Arm und blickte mir mit weit aufgerissenen Augen an: „Lass all das enden und töte mich."
„Dann hätte ich aber keinen Vorrat mehr", ich lächelte und ließ meine oberen Eckzähne über die untere Lippe gleiten. Sie waren etwas länger und etwas schärfer als die normaler Menschen, doch den meisten Personen fiel das nicht einmal auf. Sie reagierte nicht darauf, sondern versuchte sich in eine noch kleinere Kugel zusammenzurollen, als sie eh schon war.
Behutsam griff ich nach ihrem Kopf und zog ihn sanft nach oben und damit zu mir: „Halt dich an meiner Stimme fest. Sie kann doch deine Gedanken übertönen."
Sie nickte langsam und zwang sich zu einem schwachen Lächeln, wobei sie zögerlich ihre Hand ausstreckte. Ich legte meine in ihre und sie flüsterte stimmlos: „Dann erzähl mir etwas."
„Über was?"
„Erzähl mir etwas über deine...", sie wedelte mit der Hand, als sie nach dem passenden Wort suchte: „...Verwandschaft. Das sollte mich ablenken."
Ich versuchte mein aufmunterndes Lächeln nicht einfrieren zu lassen. Ich sprach nur sehr ungern über mein Familie und wenn ich einem Menschen etwas über die Vampire erzählen musste, fühlte ich mich jedes Mal schlecht.
Einen Seufzer unterdrückend begann ich zu sprechen: „Du weißt, ich bin nicht auf dem besten Fuß mit meiner Familie. Hab ich dir jemals erzählt warum?"
Sie schüttelte leicht den Kopf und ich setzte mich in Schneidersitz: „Meine Familie steht unter den Vampiren recht hoch, aber als Jüngster mit einer Schwerster und drei Brüdern hatte ich schon immer am meisten Druck gehabt. Was meine Geschwister geschafft hatten, musste ich auch schaffen – alles davon. Ich hatte irgendwann die Schnauze voll und als ich dann konnte bin ich ausgezogen. Meine Familie hasst mich dafür, aber solange ich immer noch den Traditionen folge, kann es mir recht egal sein. Sie machen mich nur gerne dafür verantwortlich dafür, dass die Familie von Makor unseren Status in Frage stellen kann. Ich finde es nun mal ziemlich lächerlich jahrhundertealte Bräuche weiterzuführen und dadurch irgendeinen Status in der Gesellschaft zu bekommen. Als sie von der WG erfuhren waren sie wütend und haben für mehrere Monate den Kontakt abgebrochen, ich hatte schon fast Hoffnungen, dass ich sie los bin, aber eh... Seitdem versuchen sie regelmäßig mich dazu zu bekommen zurückzukommen, aber mir gefällt es hier um einiges besser als bei ihnen."
In Gedanken versunken lächelnd strich ich Sumi mit dem Handrücken über die Wange. Sie hatte ihre Augen zufallen lassen, doch bei der Pause öffnete sie sie wieder.
„Am liebsten würde ich meine Familie einfach hinter mit lassen, aber ich kann nicht einfach aufhören ein Vampir zu sein", seufzte ich und sie, bereits schlaftrunken, griff nach meiner Hand. Langsam zog sie diese auf die Matratze und schmiegte sie an ihr Gesicht, als wäre sie ein weiche Decke. Instinktiv musste ich lächeln.
"Red weiter", murmelte sie und schlug die Augen wieder auf. Ich redete weiter, über dies und das. Was ich an meiner Familie mochte; wo wir wohnten und während ich redete schaute ich ihr dabei zu wie sie in einschlief. Als ihr Atem vollkommen gleichmäßig ging, befreite ich dann vorsichtig meine Hand und verließ ihr Zimmer. Diesmal schloss ich die Tür hinter mir richtig.

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