Kapitel 2

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Sie betrat das leicht heruntergekommene Café, was bei ihr um die Ecke in einem alten, schon ranzig aussehenden Altbaugebäude lag. Doch das Haus fiel nicht weiter auf, in dieser Ecke von Neukölln gab es mehr verfallene Häuser als schicke, weswegen die Preise auch noch niedrig waren.

Rahel vermutete, dass ihre Mutter auch genau deswegen hier mit ihr und ihrem Bruder wohnte, weil sie sich für ihre Verhältnisse viel leisten konnten, wobei die Preise auch hier kontinuierlich stiegen. Immerhin hatten sie noch eine Vierzimmerwohnung.

Das Café war wie immer kaum besucht, die meisten Kunden kamen morgens, um sich ihren Kaffee oder ihr belegtes Brötchen für die Arbeit zu holen, oder in der Mittagspause. Nachmittags war selten etwas los.

Rahel grüßte die Angestellte hinter der Bedientheke und ging dann weiter durch. Auch das Mobiliar hier drinnen hatte schon bessere Zeiten gesehen, aber immerhin konnte man fast alles noch benutzen, auch wenn Rahel bei manchem Stuhl leichte Zweifel hatte.

Sie ging ganz nach hinten, die anderen saßen bereits in ihrer Ecke und mit einem schnellen „Hi!", ließ Rahel sich neben Benno fallen, ihrem Freund.

„Hi Sweety!" Benno grinste sie frech an, weil er genau wusste, wie sehr Rahel diesen Namen hasste. Trotzdem küsste ihn Rahel schnell.

Auch die Übrigen begrüßten sie überschwänglich. Es waren die üblichen Verdächtigen: Benno, ihr Freund, der mit seinen weiten Hosen und den übergroßen Pullovern total hiphopmäßig aussah, obwohl er nicht sonderlich gerne Hip-Hop hörte. Eigentlich war eher Death Metal sein Ding, aber nicht die Klamotten, was Rahel schon immer merkwürdig gefunden hatte.

Auch ihre drei besten Freundinnen waren da, Chantal, die mit ihren überlangen Fingernägeln wild auf dem Tisch klopfte, Chloe, die früher von allen Jungs geärgert wurde und sie fieserweise ‚Klo' genannt hatten. Das hatte sich allerdings inzwischen geändert, nachdem Chloes Brüste anfingen zu wachsen. Als Letzte war dann da noch Mandy, die so typisch berlinerisch reden konnte, dass selbst Rahel als gebürtige Berlinerin nicht alles verstand.

Auch Bennos Kumpel waren da, wobei Klemenz gerade auf seinem Handy zockte, wie beinahe immer, wenn sie ihn traf. Titus dagegen wirkte irgendwie zugedröhnt, was Rahel besser nicht hinterfragte. Sie warf einen schnellen Blick zu Benno, doch er ließ sich entweder nichts anmerken oder war tatsächlich nicht zugedröhnt.

Chloe hatte außerdem noch ihren Freund Max dabei, mit dem sie seit zwei Wochen zusammen war. Er war ganz okay und unterhielt sich offensichtlich gerade mit Benno über irgendeinen Metal-Song oder so. Doch im Gegensatz zu Benno sah er wenigstens ein bisschen metalmäßig aus.

Rahel war jedoch klar, dass sie sich nicht zu sehr an Max gewöhnen sollte, spätestens in vier Wochen war Max wieder aus ihrem Leben verschwunden und Chloe ging erneut auf Fleischbeschauung, denn genauso sexistisch bezeichnete sie ihre Ausschau nach Männern.

Rahel schüttelte immer noch den Kopf darüber, wie Chloe das an ihrem 16. Geburtstag verkündet hatte, dass man alles mal probiert haben muss und sie ihre wenigen guten Jahre nicht mit einem Jungen oder einem Mann verschwenden will.

Bis jetzt hielt sie sich penibel daran, wie an alle Pläne, die sie machte.

Sie unterhielten sich eine Weile locker. Chantal erzählte von der neuen Haarfarbe, die sie ausprobieren wollte – Schokobraun statt bisher Haselnussbraun – und erklärte, wie groß da der Unterschied war.

Rahel rollte mit den Augen, braun war braun, aber eine Diskussion mit ihr hatte da keinen Sinn.

„Ich muss gleich wieder los", mischte Rahel sich irgendwann ein.

„Kommst du morgen Abend mit unterwegs?", fragte Chloe.

„Ich weiß noch nicht. Ich muss trainieren."

„Du ‚trainierst' schon den ganzen Sommer, hast du nicht irgendwann mal genug?" Chantal verdrehte die Augen.

„Nein, im Gegenteil, ich muss noch mehr trainieren, ich habe nämlich heute Post bekommen!" Sie grinste plötzlich. Ihre Freundinnen hatten früher mit ihr getanzt, aber inzwischen alle aufgehört. Doch sie gingen noch zusammen zur Schule.

„Was denn für Post?" Mandy runzelte die Stirn.

Rahel konnte jetzt kaum noch ihre Freude zurückhalten. „Post von UCoP!" Sie begann unweigerlich zu strahlen.

„Echt?" Chloe verschluckte sich an ihrer Fanta.

„Ja, ich habe einen Castingtermin!"

Die Mädels fingen allesamt an zu kreischen und das in einer Lautstärke, die selbst Klemenz von seinem Handy aufschauen ließ.

„Das heißt aber nicht, dass du genommen wirst!" Benno verdrehte die Augen.

„Aber sie hat eine Chance, sei nicht so ein Blödmann und freu dich mit ihr", maulte Chloe Benno an.

Rahel sah kurz zur Seite zu Benno. Sie wusste einfach nicht, was er für ein Problem mit ihrem Tanzen hatte. Anscheinend nervte es ihn, dass sie nicht immer Zeit hatte oder ihn schien zu stören, dass sie unbedingt nach London zu UCoP wollte.

Doch sie ließ sich jetzt durch ihn nicht die Laune verderben und grinste weiter. „Also wenn ich das Casting geschafft habe, kommt ein zweites und dann geht es nach London zum Casting", erklärte sie.

„Und dann wirst du genommen, kommst zu Alpha, also gleich ins beste Team, und tanzt mit Henry!" Chantal klatschte begeistert in die Hände.

Alle Mädels begannen sofort zu kichern und seufzen, Rahel auch.

„Also ich versteh ja nicht, was alle an dem Typ so toll finden. Ist der nicht schon echt alt?" Max runzelte die Stirn.

„Er ist Anfang 20, im perfekten Alter und nicht mehr so ein Milchbubi wie ihr!", meinte Chloe zickig und schwärmte dann vor sich hin, auch wenn Max neben ihr saß.

„Außerdem sieht keiner so toll aus wie er!", fügte Chantal hinzu.

„Und er hat keine Freundin, keine Tanzpartnerin, kann verdammt gut tanzen, singt himmlisch, ist höllisch reich ...", machte Mandy weiter und hatte recht. Henry, der der Superstar UCoPs war, war all das, von dem sie alle vier träumten, und Rahel war nicht die Einzige, die ein Poster von ihm im Zimmer hängen hatte.

„Boah, wir haben es verstanden." Benno würgte. Er fand das Poster grausig und tolerierte es nur, weil Rahel ihm mit einem langsamen und schmerzhaften Tod gedroht hatte, wenn er es auch nur anrührte.

„Aber er ist wirklich Hammer, das musst selbst du zugeben", murmelte Klemenz plötzlich und Benno stöhnte.

Rahel kicherte noch mehr, selbst die Jungs erkannten, dass Henry außerhalb ihrer Konkurrenz war und damit hatten sie vollkommen recht.

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