Meer

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Ihr Haar war lockig. Nicht sehr, nur leicht wellig, als wäre es nass geworden und an der Luft getrocknet. Es reichte ihr bis zum Kinn und war in einem so hellen Blond, dass es auf den ersten Blick fast weiß aussah. Außerdem verdeckte es ihr Gesicht.

Langsam trat er näher, unsicher noch, was er zu ihr sagen sollte. Sie hörte seine Schuhe auf dem Kies knirschen und blickte auf. Endlich konnte er ihr Gesicht sehen. Sie war nicht besonders hübsch, ganz zu schweigen davon, sie schön zu nennen, jedenfalls wenn man nach den gesellschaftlichen Maßstäben ging. Ihr Augenbrauen waren zu dunkel und zu buschig, hoben sich zu sehr von ihrem hellen Haar ab, ihr Mund war zu schmallippig, ihre Nase ein wenig zu groß. Trotzdem, fand er, war es das faszinierendste Gesicht, das er jemals gesehen hatte.

Aus ihren sturmgrauen Augen blickte sie ihn herausfordernd an. Ein wenig schien sie zu sagen was willst du von mir? Zeig mir, was du hast!, doch ein Teil von ihr schien reservierter, als wollte sie doch lieber in Ruhe gelassen werden, anstatt ein Abenteuer zu erleben.

„Äh, hi", sagte er, bei ihr angekommen und in der Verlegenheit, sich vorstellen zu müssen. Sie blinzelte zu ihm hoch.

„Hi", sagte sie und obwohl die Worte eine Begrüßung waren, klangen sie endgültig.

Er deutete auf den Platz neben sie, wo die sonnengewärmten steinernen Stufen einen Platz zum Ruhen versprachen. „Darf ich?", fragte er vorsichtshalber. Sie zuckte nur mit den Schultern, aber sie hatte nicht nein gesagt und so ließ er sich neben ihr nieder.

Sie blickte stur nach vorn, vermied jeden Blick zur Seite, als sei er ihr egal. Er tat es ihr gleich und gemeinsam und doch jeder für sich starrten sie einige Minuten lang nebeneinander auf das Meer. Es war nicht sehr stürmisch heute und das Meer war tiefblau. Die Wellen schäumten dennoch weiß auf, wenn sie brachen und versprühten kalte Gischt. Er war froh, dass sie weit genug vom Wasser entfernt saßen, um nicht nass zu werden.

Er wagte einen Blick zum wolkenlosen Himmel. Noch stand die Sonne recht hoch, es waren noch einige Stunden, bis es dunkel werden würde.

„Weißt du, wer ich bin?", fragte er sie schließlich, als er sich am Meer sattgesehen hatte. Sie zog ihre sowieso schon dünnen Lippen zusammen, sodass sie fast verschwanden und er dachte schon, sie würde ihm nicht mehr antworten, als sie doch den Mund öffnete.

„Ich denke schon", meinte sie und blickte ihm zum ersten Mal wirklich in die Augen. „Kannst du mich hier weg bringen?"

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