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Diesmal war der Matheunterricht kaum entspannend. Meine Gedanken schweiften immer vom Unterricht ab. Niall und Angela hatten sichtlich viel Spaß, sie lachten, kicherten und Angela schwang ihre langen blonden Haare oftmals zurück und ich verfolgte Nialls Blicke, die Angela immer wieder mit einem gekonnten Augenaufschlag auf sich zogen.

Während sie in ihren Haaren rumfummelte, packte ich mir zögerlich an meine und begann an mir zu zweifeln. Meine blond-braunen Haare waren im Gegensatz zu ihren kurz, sie gingen mir gerade über die Ohren. Ich musste sie damals abschneiden lassen, weil mir jemand Kaugummi hinein geklebt hatte (ganz Ausversehen natürlich *hust*) und kein Friseur in London dies retten konnte. Aber allgemein sind kurze Haare wirklich viel angenehmer als lange, du musst sie nicht wirklich stylen (hätte ich eh nicht gemacht aber trotzdem), sie stören nicht so und fetten tuen sie auch nicht besonders schnell. Jedenfalls war das meine Ausrede damals. Eigentlich sehnte ich meine langen, schönen Haare zurück, mir sie wieder ins Gesicht fallen zu lassen und mich dahinter zu verstecken, wenn ich mich schämte oder einfach nicht auffallen wollte, sie morgens und abends kräftig durchzukämmen und sie danach leicht schwingend auf meinen Schultern zu spüren, wenn ich meine ersten oder letzten Schritte des Tages tat.

Aber meine Haare waren wirklich mein kleinstes Problem, im Gegensatz zu Angela war ich erstens unbeliebt, hatte zweitens keine Freunde, war drittens eine Streberin und hatte viertens deswegen große Komplexe. Nein, das war untertrieben. Sehr, sehr große Komplexe und Verhaltensstörungen bei meinen Mitmenschen drückte es wohl besser aus. Und die Dünnste war ich nun wirklich auch nicht. Schokolade und jegliche anderen süßen Verführungen machten mir das Leben unnötig schwer.

Warum sollte Niall sich mit mir abgeben, wenn er doch Angela und ihre ganze Clique hätte haben können?

Warum?

Während ich weiter über diese Frage nachgrübelte und zu dem Schluss kam, dass er sich jetzt eh nicht mehr mit mir abgeben würde, was mir zugegebenermaßen einen kleinen Stich ins Herz versetzte, packte ich, da es endlich zur großen Pause geläutet hatte, meine Sachen zusammen und verließ die Klasse. (Puuh, langer Satz.)

Schweigend lief ich die vollen Gänge der "Shakespeare"-Privatschule entlang, immer einen Blick auf Niall und Angela werfend, die gut fünf Meter vor mir liefen und sich hervorragend amüsierten . Und ich dachte, er wäre einer der Guten. Okay, das war jetzt vielleicht ein bisschen poetisch und übertrieben gewesen aber ich war schon immer der romantischen Literatur mit der großen Liebe verschrieben gewesen. "Julia und Romeo" war wirklich mein Lieblingsstück gewesen. Das Ende jedoch fand ich etwas zu hart. Warum sind sie denn beide gestorben? Nachdem ich das ganze literarische Werk Shakespeares verschlungen hatte, hatte ich den ganzen Abend durchheulen müssen und mich mit Schokoladeneis vollgestopft. Es hatte sich fast wie eigener Liebeskummer angefühlt.

Jedoch konnte ich da ja noch nicht wissen, dass eigener Liebeskummer noch verstörender und schlimmer ist.

Jedenfalls - ich schweife schon wieder ab, 'tschuldigung - hatten die beiden sichtlich Spaß. Ihre Münder bewegten sich pausenlos und als Angela (absichtlich) hinfiel und Niall sie gerade noch auffing, gab es mir den Rest. Ungewollt zitterte ich vor Wut und meine Hände ballten sich zu Fäusten. 'Wie wagt sie es bloß sich so aufzuführen!?' Und da geschah es, ihre ganze Schminke war wie von Zauberhand verschmiert worden und ihr hautenger Minirock an der hinteren Seite so aufgeplatzt, dass man ihre Unterhose sah. Mit einem Blick sah ich, dass sie diesmal nicht ihre teure Victoria's Secret Unterwäsche, die sie immer anhatte, wenn wir Sport hatten, sondern eine ausgewaschene knallgelbe "Snoopie & Friends"-Unterhose trug. Alle Schüler, die sie von hinten oder der Seite sahen, einschließlich mir, mussten laut auflachen, als sie sich wieder aufrappelte und mit einem gezischten "Mädels! Mitkommen!" zu ihren Freundinnen, die sich wegen Niall im Hintergrund gehalten hatten, in Richtung Mädchentoilette abdampfte und sich die ganze Zeit an ihrem ruinierten Rock herumfummelte.

Nachdem sie und ihre Gefolgsleute verschwunden waren und die schaulustigen Schüler sich wieder in Bewegung setzten, natürlich nicht ohne über Angela, ihre verlaufene Schminke und ihre sehr attraktive Unterhose zu tratschen, fiel mein Blick auf Niall.

Bedröppelt schüttelte er den Kopf, grinste aber als unsere Blicke sich trafen. Ich jedoch ging ohne jegliche Regung in meinem Gesicht oder einem Kommentar an ihm vorbei. 'Ist Angela weg, bin ich also gut genug für ihn oder was?''

„Ey Julie, warte!", rief er mir noch zu, bevor ich um die nächste Ecke verschwinden konnte. "Ich komm mit dir."

Meine Schritte beschleunigten sich, Niall hatte mich jedoch schnell eingeholt. Schnell atmend fragte er mich: „Ich dachte schon die geht nie. Warum hast du mich denn nicht erlöst?" Kleine Fältchen bildeten sich um seine strahlenden Augen, als ich wagte ihn anzugucken.

'Was hatte er gerade gesagt!?', war meine einzige Frage in diesem Moment und mein Mund formte sich zu einem großen 'O'.

Worth | n.h.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt