Kapitel 28 - Titus

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Ich weiß nicht, ob die Zeit zu schnell vergeht oder zu langsam. Ich merke gar nicht, ob sie überhaupt vergeht. Tag und Nacht, es ist alles das Gleiche hier unten, in dem kalten, feuchten, dunklen Verlies. Ab und zu bekomme ich Essen, aber auch das nimmt ab. Manchmal schlafe ich, oft schlafe ich gar nicht. Ich merke, wie die schimmlige Luft an meiner Gesundheit zehrt. Ich bin erschöpft und hocke die meiste Zeit zitternd in einer Ecke. Und doch weiß ich nicht, ob ich bereuen soll. Ich könnte in meinem verlassenen Palastfügel sein, rechtlos und verachtet, aber immerhin an einem nicht ganz so furchtbaren Ort. Aber dann wüsste ich nichts über die Beweise für meine Unschuld. Dann hätte ich nicht endlich wieder Hoffnung. Dann hätte ich sie nicht kennengelernt.

Ich habe in den Jahren seit meiner Verurteilung viel gelesen, besonders solche Lektüre, die mir mein eigenes Schicksal angenehmer machen sollte. Ich habe gelernt, dass Gefangenschaft Menschen verrückt machen kann. Manche schreien, manche verlieren ihre Sprache, manche entwickeln eine Angst vor allem und jedem, auch wenn sie wieder in Freiheit gelangen. Und manche klammern sich an etwas fest. Oft sind es Worte, die immer wieder ausgesprochen werden, ein endloses Mantra, das auch dann nicht verstummen will, wenn die Stimme versagt. Ich habe mein eigenes Mantra. Es ist ihr Bild, das vor meinem inneren Auge aufleuchtet, sobald ich die Augen schließe. Vermutlich werde ich auch verrückt, da noch nie eine Frau geschafft hat, meine Gedanken zu beherrschen. Ich weiß nicht, wie es ihr gelungen ist, wo ich sie doch am Anfang so sehr gehasst habe. Doch jetzt stärkt und beschäftigt sie meine Gedanken. Ich habe bisher nicht bemerkt, wie intensiv ich von Anfang an auf sie geachtet habe. Aber tatsächlich kann ich mich an die Kleider erinnern, die sie getragen hat. Zarte Farben beim Portraitmalen im Rosensalon. Ein kräftiges, schon fast skandalöses Rot auf dem Ball. Und auch die schmuddelige Kleidung einer Küchenmagd. So viele Erinnerungen an sie zu haben, würde mich erschrecken, wenn es nicht so schrecklich um mich stehen würde. Wie schlimm kann es schon sein, das eigene Herz zu verschenken, wenn das ganze Leben in Kürze in den Abgrund stürzen wird?

Weder Fräulein Marlene noch Moritz habe ich noch einmal zu Gesicht bekommen. Ich vermute, dass mein Bruder – jetzt, wo es auf die Vollstreckung zugeht - niemanden mehr zu mir lassen möchte. Aber ich muss einfach das Vertrauen aufrechterhalten, dass die beiden sich etwas einfallen lassen. Moritz ist mein loyalster Freund. Und Marlene... Sie ist wohl der klügste und entschlossenste Mensch, den ich in meinem Leben kennengelernt habe.

Meine Gedanken werden jäh unterbrochen, als am Ende des Gangs die schwere Eisentür geöffnet wird. Nach ein paar Sekunden fällt sie schwer ins Schloss. Ich höre schwere Schritte. Es sind mehrere Personen. Mühsam rappele ich mich auf. Ich zittere am ganzen Leib, so geschwächt bin ich. Ist es schon so weit? Ist der Zeitpunkt meiner Verurteilung bereits gekommen?

In dem zuckenden Licht der Fackel erkenne ich Eventus. Wie immer wird er flankiert von seinen persönlichen Beschützern. Und noch ein weiterer Mann ist bei ihm. Groß, massig und mit kantigen Gesichtszügen. Ich kenne ihn. Kalte, dunkle Angst macht sich in mir breit. „Bitte tu mir das nicht an", flüstere ich. Mir ist egal, dass mein Bruder hämisch über meine Schwäche frohlockt. Mir ist egal, wie das Urteil lautet, das er über mich fällen wird. Aber ich kann nicht glauben, dass er mich quälen will.

„Warum tust du das?", wimmere ich. Eventus blickt auf mich herab. „Weil ich all die Jahre in deinem Schatten gelitten habe. Weil dir gleichgültig gewesen wäre, welches Leben ich führe, wenn du König geworden wärest. Und weil ich all die Zeit meine Wut gezügelt habe. Du bist schwach und du beweist es. Wie du am Boden kauerst und heulst, ist erbärmlich. Ich will meinen Sieg über dich in deinen Schreien hören."

Es ist, als schließe sich eine Klaue um mein Herz. Wann hat mein Bruder gelernt, so zu hassen? Mich so sehr zu hassen? „Sei beruhigt", knurrt er, „morgen wirst du deinen Körper sowieso nicht mehr brauchen." Und in diesem Moment weiß ich, wie mein Urteil lauten wird. Meine Hoffnung auf eine Gefängnisstrafe oder eine Verbannung kommt mir auf einmal wie ein Witz vor. Hatte ich ernsthaft erwartet, Eventus würde die geringste Möglichkeit bestehen lassen, dass ich ihn irgendwann, in ferner Zukunft einmal stürze? Es gibt nur eine Strafe, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Morgen also. Morgen werde ich sterben. Und weil er vermutlich für das Volk eine humane Methode gewählt hat, mich zu töten, will er mich heute leiden sehen.

Höchstpersönlich öffnet er die Zellentür. Der Fleischberg betritt die Zelle, ich weiche zurück. Ein paarmal schneidet die biegsame Rute in den Händen des Peinigers durch die Luft. Es zischt und ich stelle mir vor, welche Schmerzen es bereiten wird, das Folterwerkzeug auf meinem Körper zu spüren. Doch ich habe nicht viel Gelegenheit, mich in die grauenhaften Vorstellungen zu vertiefen. Mit einem großen Schritt ist der Mann bei mir, packt mich am schmutzigen Hemd und stößt mich zu Boden. Selbst in Besitz all meiner Kräfte hätte ich nichts gegen ihn ausrichten können. Jetzt, entkräftet und hungernd, kann ich erst recht nichts gegen ihn vollbringen. Ich vernehme das schneidende Geräusch, dann schießt ein glühender Schmerz durch meinen Rücken. Ich schreie. Noch ein Hieb. Noch ein Schrei.

„Weiter!", herrscht Eventus ihn an. Der Mann, der einst mein Bruder war. „Mach weiter, bis er ohnmächtig wird!" Die Schmerzen gleichen Höllenqualen. Bitte lass es schnell gehen, bete ich innerlich. Ein weiterer Hieb. Mir wird schwarz vor Augen.


Die HofdameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt