Kapitel 16 - Titus

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Ich höre ihn kommen. Der Teil des Schlosses, in dem ich wohne, ist so separiert und geräumt worden, dass es stets gespenstig still um mich ist. Ich habe schnell gelernt, jedes noch so kleine Geräusch wahrzunehmen. Ich kenne das Pfeifen des Windes, wenn irgendwo ein Fenster offensteht, das Knarzen der Rohre in der Wand, das Summen eines verirrten Dienstmädchens und ich kenne die Schritte meines Bruders. Eilig schlage ich das Buch zu, welches ich gerade überfliege. Es ist eine knappe Biographie über Theodoras Kindheit, welche die Familie von Kroesus kurz nach ihrer Hochzeit in Auftrag gegeben hat. Ich habe sie mir aus der Bibliothek geliehen, aber mittlerweile glaube ich, dass nichts, was darin steht, mir irgendwie nützlich sein kann. Entweder ich suche ein Detail, das so unwichtig erscheint, dass es hier keine Erwähnung findet, oder es ist etwas, was erst nach ihrer Hochzeit geschieht. Allein vom Zeitpunkt meines Prozesses tippe ich auf meine letzte Vermutung.

Ich schiebe das dünne Buch zwischen zwei andere Bücher in einem meiner Stapel. Natürlich besitze ich Bücherregale und dergleichen, aber ich bin schon immer ein großer Leser gewesen, habe mein Wissen breit gefächert, sodass der Platz in meinen Möbeln irgendwann nicht mehr ausgereicht hat. Viele Bücher stapeln sich auf dem Boden. Es sind inzwischen so viele, dass Eventus die dünne Biografie nicht auffallen wird. Ich kann mir nicht leisten, dass er mir auf die Schliche kommt.

Ich positioniere mich dekorativ am Fenster. Keine Sekunde zu früh, denn ohne ein Klopfen wird die Tür aufgerissen und mein Bruder dringt in mein Reich ein. Flankiert von zwei Wachen, versteht sich. „Welch freudige Überraschung", lasse ich sarkastisch verlauten und muss mir ein Grinsen verkneifen, als Eventus mich dümmlich erschrocken anstarrt. Zweifellos geht ihm jetzt auf, warum er mich gestern auf dem Ball nicht finden konnte. Er hat nach einer heruntergekommenen Person gesucht, sodass er blind war für die Edelmänner um sich herum.

„Sieh an", knurrt er schließlich mit einem säuerlichen Zug um den Mund. „Ich dachte immer, Menschen können sich nicht ändern. Aber scheinbar hat mein großer Bruder gelernt, was es heißt, sich für einen Ball fein zu machen. Schade, dass Mutter diesen Tag nicht mehr erleben kann." Ich ziehe zornig meine Augenbrauen zusammen. „Ich glaube kaum, dass mein Äußeres Mutter darüber hinweggetröstet hätte, dass du unsere Familie zerstörst." Eventus zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Du warst immer Vaters Liebling. Der große Erbe! Aber weißt du was? Mutter und ich haben etwas gemeinsam. Wir beide mussten immer zurückstehen hinter den Großen, Mächtigen unserer Familie. Für alles, was wir erreicht haben, mussten wir kämpfen. Uns wurde nichts von Geburt an in den Schoß geschmissen, sondern wir haben gelernt, dass es Dinge gibt, die selbst ein Geburtsrecht aufheben können. Sie hat sich immer gewünscht, dass ich eines Tages König werde. Und ich habe von Anfang an gewusst, dass ich nicht zulassen würde, dass mein Leben im Amt eines Botschafters verfließt, der mehr Zeit an Bord eines Schiffes verbringt als an Land. Ich kann nicht zufrieden sein mit einem armseligen Leben, wie Onkel Korbinian es lange Zeit geführt hat."

Ich beiße wütend die Zähne zusammen. Er hat kein Recht, meinen Onkel zu beleidigen, der nun, nach meiner Verurteilung, voll und ganz hinter ihm steht. Ich habe Korbinian immer bewundert. Als Kind hat er mir kuriose Dinge von seinen Reisen mitgebracht. Ein riesiges Trinkhorn, einen Dolch, dessen Klinge sich in das Heft einklappen lässt, eine bunte Rassel, Bücher mit fremdländischen Schriftzeichen, Fossilien und vieles mehr. Meine Mutter hat immer nur pikiert geschaut. Für sie war ich ohnehin zu unbändig und undiszipliniert, auch ohne, dass ich mir von meinem Onkel Geschichten über besondere Gegenstände einpflanzen ließ. Zweifellos hat sie Eventus mehr geliebt als mich, doch ich glaube, dass sie irgendwann, als ich älter wurde, gesehen hat, dass ich das Zeug zum nächsten König habe. Ich bezweifle, dass sie meinen Bruder jemals auf dem Thron sehen wollte.

„Was willst du eigentlich hier?", frage ich herablassend, obwohl ich es im Grunde weiß. „Und warum hast du deine Wachen mitgebracht? Glaubst du ernsthaft, ich würde dich so schändlich behandeln wie du mich?" Eventus grinst frech. „Ich habe dich zu meinem Feind gemacht, Titus. Ich habe dir deine Rechte genommen, deinen Titel, dein Königtum, dein Leben, deine Chance auf eine vernünftige, angesehene Frau. Glaub nicht, dass ich den Hass unterschätze, den ich in dir geschürt habe. Deine Privilegien mussten meinen weichen. Und kein vernünftiger Mensch könnte das ohne einen geringsten Gedanken an Rache einfach so hinnehmen."

Tatsächlich habe ich mir oft vorgestellt, wie es wäre, meinen Bruder für seine Intrigen zu bestrafen. Doch ich habe dabei nie ein Gefühl von Befriedigung verspürt. Es machte mich nur unendlich traurig.

„Doch zurück zu deiner Frage: Ich war sehr ungehalten gestern, als Baron von Baltimoor deine Anwesenheit mitteilte. Leider ist dieser Idiot so kurzatmig, dass er mir auf der Suche nach dir keine große Hilfe war. Und durch den Alkohol hat er wohl vergessen, mir zu sagen, dass du nicht wie eine Küchenschabe in der letzten dunklen Ecke hockst, sondern vergnügt Teil der Veranstaltung bist." Eventus versucht krampfhaft, gelassen zu klingen, doch ich merke, wie sehr es ihn wurmt, dass ich gestern in Kontakt mit Menschen getreten bin und er nicht kontrollieren kann, was genau ich eigentlich getan habe. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, wenn er überhaupt nichts von meinem Ballbesuch mitbekommen hätte, aber es hätte auch weitaus schlimmer enden können. Glücklicherweise ist der Einzige, der sich aktiv in Eventus Intrigen einspannen lässt, Baron von Baltimoor, ein dicker Speichellecker, der dem Wein mehr zugetan ist, als ihm guttut und der zu vergesslich ist, um meinem Bruder wirklich wichtige Informationen übermitteln zu können. Er glaubt an das unrechtmäßige Königtum, das Eventus sich ergaunern will und möchte sich schon im Voraus eine mächtige Position sichern, die er zweifellos nie bekommen wird, egal, wer der nächste König sein wird.

„Also, was hattest du dort zu suchen?" Die Stimme meines Bruders ist eiskalt. Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Wer bist du, dass ich dir Rechenschaft schuldig sein soll?" „Der nächste König, Titus. Nur der nächste König. Und das in weniger als einem Jahr." Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. Ich könnte ihm eine Antwort verweigern. Ich bin ihm nicht verpflichtet. Aber je mehr ich schweige, desto größere Verschwörungstheorien werden in seinem Kopf wachsen. Und das kann ich mir nicht leisten.

„Ich habe getanzt und mich amüsiert. Der Wein war gut. Und die Frauen über die Maßen hübsch. Da war so eine Dame, dezent in Gelb, die hat mich überaus gut unterhalten." Ich denke an die aufgetakelte Person, neben der ich die Hofdame beim Tanzen platziert habe und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Der Alptraum eines jeden Mannes! „Du willst mir jetzt nicht erklären, dass deinem scheinbaren Lebenswandel die Langeweile zugrunde liegt, oder?" Ich merke förmlich, wie Eventus sich sein hinterhältiges Hirn darüber zerbricht, ob ich nun die Wahrheit gesagt habe. „Glaub es, oder glaub es nicht, Bruder. Du kannst nicht wissen, was es mir bedeutet, mich für einen Abend wie ein normaler Mensch zu fühlen. Du hast mich erfolgreich soweit isoliert, dass ich dir keinen Ärger machen kann. Also gönne mir ein bisschen Spaß auf einem großen Fest, wo mich niemand erkennt und jede neue Bekanntschaft nur so viel Bedeutung erlangt, wie es zwischen üppigem Essen und feierlicher Musik eben möglich ist."

Ich sehe, wie er zögert und meine Erklärung schließlich schluckt. Lässig lässt er seine Hände in den Taschen seines Mantels verschwinden. „Dein Glück, Titus, dass du keinen Unsinn angestellt hast." Ich hasse es, wenn er mit mir redet wie mit einem kleinen Kind! „Ich hätte es mir nicht verziehen, wenn du unserer lieben, treuherzigen Marlene den Abend verdorben hättest. Sie gibt sich soviel Mühe, alles richtig zu machen und hinter ihren Schwestern nicht zurückzustehen. Es hat sie schon viel zu sehr beunruhigt, dass du sie mit deinen kryptischen Worten heimgesucht hast wie ein Schlossgespenst, während sie für dieses fabelhafte Portrait Modell gesessen hat." Das Portrait ist scheußlich! „Also lass dich in ihrer Nähe einfach nicht mehr blicken. Ein Frauenherz verträgt nicht viel Aufregung." Ein leichtes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Mein Bruder steht da, ein herausgeputzter Schönling, der sich für den größten Frauenversteher auf Erden hält und bedauert eine Dame, die vorhat ihn zu bestehlen. Fräulein Marlene hat mich überzeugt mit ihrer Entschlossenheit, mit ihrem Gespür für die Wahrheit und ja, auch mit ihrer scheinbar vorhandenen Intelligenz. Aber selbst, wenn ich dies alles nicht an ihr entdeckt hätte, so wäre ich dennoch beeindruckt von ihr gewesen. Allein deshalb, weil sie meinen Bruder an der Nase herumführt.

„Keine Sorge", sage ich gelassen und versuche, mir meine Erheiterung nicht anmerken zu lassen. „Die Hofdame ist nicht mehr weiter interessant für mich." Und noch etwas ironischer füge ich hinzu: „Natürlich hätte auch ich mir niemals verziehen, wenn ich ihr den Abend verdorben hätte."


Die HofdameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt