Kapitel 17 (Isabèlle)

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Isabèlle's Sicht:

„Und dann stach meine Schwester sich an einer Nadel und lief wochenlang mit einem übertriebenen Verband rum, als ob ihr jemand den Finger abgeschlagen hätte", lacht Shawn und reicht mir ein Stück von dem Fleisch, das ich ihm mitgebracht habe und dankend annehme. Ich stimme in sein Gelächter über die Geschichten aus seinem Distrikt ein.
„Hör mal, Bel, fragen sich die anderen Karrieros nicht, wo du tagsüber so lange bleibst?", beginnt er mit ernster werdenden Ton. Ich zucke mit den Schultern. „Wahrscheinlich denken sie, dass ich jagen bin. Oder sonst was mache. Die interessiert doch nichts außer ihr eigenes Überleben.", sage ich, leicht amüsiert. Das ist jetzt schon der vierte Tag, an dem niemand gestorben ist und an welchem ich die meiste Zeit in der kleinen Höhle nicht weit von Füllhorn verbringe. Dass das ein Risiko mit sich birgt, weiß ich, aber es ist mir herzlich egal. Ich weiß mich zu wehren und der Stämmige neben mir sicherlich auch. Langsam fällt rot-orange schimmernderes Licht durch den Eingang der Höhle hinein, es dämmert. Zeit zu gehen, normalerweise. „Bleib' doch noch!", sagt der Braunhaarige, gespielt leidend, und hält mich am Ärmel fest, als ich aufstehen möchte. „Du weißt dass das nicht geht. Es würde auffallen, sie würden mich suchen kommen. Vor allem Evgeny. Zu zweit haben wir gegen 3 Karrieros kei-" „Eine Nacht, wir können uns auch mit dem schlafen abwechseln", bettelt Shawn und sieht mich durchdringend an. „Gott, das geht auf deine Verantwortung. Wenn wir draufgehen, weiß ich, wem ich das zu verdanken hab'.", schmunzle ich und lasse mich wieder neben ihm nieder. Er lehnt sich zu einem Rucksack neben ihm und reicht mir eine dünne Decke, schlecht verarbeitet aber wärmend für die Nacht. „Ich kann ganz gut für mich selbst sorgen, Queen.", sage ich in einem übertrieben selbstgefälligen Ton, woraufhin der Brünette jedoch nur lacht und sich an der Höhlenwand anlehnt. „Erzähl du doch mal. Ich habe die ganzen letzten Tage nur von mir erzählt, von meinem Distrikt, meiner Familie und dabei kaum etwas von dir gehört." Seufzend greife ich mir eine der drei Wasserflaschen, die ich Shawn mitgebracht habe, und beginne so langsam wie möglich zu trinken, um dem Gespräch auszuweichen. Bis er mir die Flasche auf einen Schlag wegnimmt. „Hey, ich hab Durst du Idiot." „Ja, offensichtlich.", meint er augenrollend und sieht mich erneut erwartungsvoll an. „Nun ja, es gibt kaum etwas zu erzählen. Details über die Kindheit der Karrieros sind ja überall bekannt. Mein Bruder wurde auch zu einem ausgebildet, ist aber zu alt um gezogen zu werden und hatte nie die Chance, sich freiwillig zu melden. Umso stolzer war meine Familie, als ich mich freiwillig gemeldet habe." „Aber das ist doch schrecklich, sich freiwi-" „Wenn du dein ganzes Leben darauf hingearbeitet hast, dann freust du dich schon fast darauf. Du freust dich auf die Spannung, den Kampf und den Ruhm." Ich schlucke. Als ich all das laut ausgesprochen habe, hinterfrage ich es nur umso mehr. Shawn scheint das ähnlich zu sehen. Einige Minuten lang herrscht Schweigen zwischen uns, bis er es bricht. „Ich übernehm' die erste Schicht, okay? Dann kannst du dich ausruhen, die ganze Sache mit den Karrieros und mir muss dich müde machen.", sagt er lächelnd und streicht mir eine Strähne hinter's Ohr. Ich nicke und willige ein. Er hat Recht, ich brauche wirklich Schlaf. Bei Evgeny, Claudia und Elijah muss ich die längsten Schichten übernehmen, sodass ich nachts kaum Schlaf bekomme. Ich nehme die Decke, die ich neben mich gelegt hatte, und breite sie über mir aus, während ich mich mit dem Rücken zu Shawn auf den Boden lege. Gott, was bin ich ihm dankbar für das, was er mir gibt. Zuneigung, die ich selten von meiner Familie bekam. Vertrauen, was bisher nur Chair so wirklich in mich setzte. Und das auf eine Weise, bei der ich mich nicht wirklich wohl gefühlt habe. Bei Shawn fühle ich mich wohl. Ich weiß, ich kenne ihn erst wenige Tage, aber es fühlt sich wie eine komplette Ewigkeit an.
Als ich den Morgen danach aufwache, realisiere ich, dass ich die komplette Nacht durchgeschlafen habe. Nicht einmal hat Shawn mich geweckt, um eine Schicht zu übernehmen. Dementsprechend liegt er jedoch ebenfalls schlafend neben mir, mit seinem zerzausten Haar. Lächelnd sehe ich ihn an, einige Minuten lang, bis ich beschließe, aufzustehen und ein paar Beeren für ihn bereit zu legen. Ich stehe auf und lege die Decke über den noch schlafenden Brünetten, der sich daraufhin leicht bewegt. Leisen Schrittes, um ihn nicht zu wecken, gehe ich aus der Höhle heraus und laufe in die entgegengesetzte Richtung des Füllhorns, um einige essbare Beeren zu sammeln.
Als ich wiederkomme, ist Shawn schon wach. „Wie ich sehe, hast du uns ein kleines Frühstück organisiert", sagt er schmunzelnd und verstaut die Decke wieder in seinem Rucksack. Lachend setze ich mich vor Shawn hin, welcher mir mit dem Rücken zum Eingang gegenüber sitzt. Ich reiche ihm die Beeren und er verteilt sie gleichmäßig, wobei er mir einige mehr gibt, die ich vorerst ablehne, dann aber trotzdem esse. „Du bist so zierlich, du brauchst das um Muskeln aufzubauen." „Duu...", fauche ich lachend und gehe auf ihn los. Da er jedoch um Längen stärker ist als ich, hält er beide meiner Handgelenke mit Leichtigkeit in seinen Händen fest, sodass er es mir schwer macht, mich zu bewegen. „Ich kenn' ja schon muskulösere Menschen als dich.", sage ich ruhig, um ihn etwas zu necken. „Aber keine attraktiveren, hab' ich Recht?", grinst er. „Du arroganter-" „Na na na.", erwidert er und legt mir seinen Finger auf die Lippen. Er lässt seine andere Hand, mit der er mein Handgelenk festhält ebenfalls sinken und sieht mich an. Stattdessen nimmt er meine Hände in seine und lächelt mich einfach nur an. Er kommt auf mich zu, ich sehe ihm weiterhin in die grün glänzenden Augen, mit welchen er mich fordernd ansieht.
Man sagt, dass Verlust uns weniger trifft, wenn es schnell geht. Wenn die Person, die uns wichtig ist, uns schnell verlässt, wäre es, als reißen wir uns ein Pflaster von der Haut, schnell und schmerzlos. Doch in diesem Moment weiß ich, dass es das komplette Gegenteil ist. Ich wusste dass sie mich suchen würden. Shawn's Gesicht ist nur kurz vor meinem, als er plötzlich versteift und Blut beginnt, erst seine Lippen, dann sein Kinn herunterzulaufen. Ich erschrecke. Nein. Das geht nicht, das-... Das kann nicht passieren. Er sackt in sich zusammen und ich bemerke eine Axt, die tief in seinem Rücken steckt. Lange bleibt ihm nicht, höchstens einige Sekunden. Das bestätigt sich auch, als die Kanone nur wenig später ertönt. „Hier warst du also die letzten Tage. Hier landen all unsere Vorräte.", höre ich vom Eingang der Höhle. Evgeny. „Du bist eine verdammte Verräterin, Bel. Wenn die anderen erfahren, dass du lieber ihm unsere Vorräte gibst statt uns zu ernähren, dann werden sie die qualvoller töten als ich es je könnte." Zitternd stehe ich auf, meine Hände voller Blut. „Er war ein guter Mensch!", kreische ich. „Er war besser, als ihr alle es je sein werdet!" Ich glaube, in diesem Moment kreische ich mir die Seele aus dem Leib. Die anderen werden es vermutlich trotzdem nicht hören. Ich sehe, dass Evgeny aufgrund der geworfenen Axt unbewaffnet ist. „Du elendiger Bastard!", kreische ich weiter, während ich mir sämtliche Gegenstände nehme und damit auf Evgeny ziele, der jedoch keine Anstalten macht, wegzulaufen. Stattdessen kommt er auf mich zu, möchte wahrscheinlich versuchen, mich mit zu den anderen zu zerren. Ich merke langsam, wie mir Tränen die Wangen herunterlaufen, nutze jedoch einen Moment um nach einer Art Schwert zu greifen, welches Shawn neben seinem Rucksack liegen hatte, und bevor mein Distriktpartner bei mir ankommt und die Chance hat, ramme ich es ihm mitten den Magen. Mehrmals, sodass das Blut nur so auf den Boden und auf meine Kleidung trieft. Selbst als die Kanone schon ertönt ist und Evgeny bereits am Boden liegt, steche ich noch mehrere Male, halb weinend und halb kreischend, auf ihn ein, bis ich das Schwert endlich fallen lasse. Ich lasse mich vor Shawn auf die Knie fallen, realisiere, was sich in den letzten Minuten hier angespielt hat. Ich sehe zur Leiche von Evgeny, dann zurück zu der von Shawn. Ich atme tief ein, dann wieder tief aus. Jetzt zurück zu Claudia und Elijah zu gehen würde mich zerfressen. Ich hatte mich damit angefreundet, mit Shawn durch die Spiele zu gehen, mich von den toxischen Karrieros, von denen ich nur vor wenigen Tagen selbst einer gewesen bin, loszulösen. Klar, ich bin immer noch ein Karriero, das kann ich nicht ändern. Aber ich habe etwas erfahren, was niemand von den anderen versteht. Niemand von diesen bluthungrigen Biestern.
Ich komme, blutüberströmt und wahrscheinlich ziemlich fertig aussehend, am Füllhorn an. Statt einer Begrüßung oder Fragen, wie es mir geht, wo ich gewesen bin oder was überhaupt passiert ist, kommt von Claudia nur ein „Wo ist Evgeny?". „T-Tot", sage ich, immer noch mit Tränen in den Augen, die aber nicht Evgeny gelten. „Wie?", schaltet sich Elijah ein. „Ich-... Es war so, dass Shawn, der aus 8... Er hat mich entführt, über die Nacht gefangen genommen und mich all meiner Waffen entledigt, ich-..." Ich schlucke. „Ich hatte solche Angst." So unglaubwürdig das als Karriero klingt, Claudia und Elijah scheinen es mir abzukaufen. „Und als Evgeny mich fand, brachte Shawn ihn sofort um, also-..." „Hast du Queen umgebracht.", beendet Claudia meinen Satz. „Ich weiß, dass dich der Tod von Evgeny mitnimmt, Isabèlle." Sie legt einen Arm um mich und begleitet mich zu einem Baumstamm, auf welchen wir uns setzen. Es ist so abscheulich, ihre Berührungen zu spüren. Andere als die von Shawn. Es fühlt sich falsch an, zu den Karrieros zurückgekehrt zu sein, so falsch.

Survive | 30th Hunger Games (German ThG FanFiction) [Abgeschlossen]Where stories live. Discover now