Kapitel 88 - Selbstlos

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Um nicht noch einen Nachmittag lang rastlos in der Küche hin und her zu laufen, ging er nach draussen. Eine Weile lang lungerte er beim Brunnen herum, dann kletterte er auf die Dächer und rannte los. Er verfolgte kein Ziel, sondern lief, sprang und kletterte einfach nur, um die Nervosität loszuwerden, die Gedanken an Nemi, in ihrem Zimmer, ihrem Bett. Bei Yainil, was hatte er sich nur dabei gedacht, einfach hochzuklettern? Hoffentlich dachte sie jetzt nicht schlecht von ihm. Gut, immerhin hatte sie ihn dazu gebracht, dort zu bleiben. Allerdings machte es das nicht besser. Er war der Ältere, er hätte derjenige sein müssen, der vernünftig war und den Anstand wahrte.

Andererseits – gab es so etwas wie Anstand überhaupt, wenn niemand da war, der davon wusste? Ging es bei Anstand nicht grundsätzlich darum, sich nicht vor anderen danebenzubenehmen, nichts zu tun, woran die Gesellschaft Anstoss nahm? Sie konnte keinen Anstoss nehmen, wenn sie nichts davon mitbekam. Und Nemi hatte offensichtlich kein Problem damit gehabt...

Er hielt erst inne, als er keine Luft mehr bekam und seine Kleider nass waren vor Schweiss. Ächzend liess er sich aufs Dach fallen, in der prallen Sonne, denn jede Suche nach Schatten war um die Tageszeit hier oben ohnehin vergeblich. Lange hielt er es nicht aus. Schliesslich machte er sich auf den Rückweg.

Schon von weitem sah er Misty auf seinem Stuhl sitzen. Bemüht beiläufig schlenderte er zu ihm hin und begrüsste ihn. Misty erwiderte den Gruss und fragte grinsend: „Heute schon eine Menge geleistet?"

„Nichts Sinnvolles", winkte Falrey ab. Er wartete ab, ob Misty etwas sagen wollte, aber der grinste nur. So breit, als wüsste er genau, was Falrey auf der Zunge lag. Schliesslich platzte Falrey selbst heraus: „Hast du eine Nachricht für mich?"

Misty hob die Augenbrauen. „Eine Nachricht? Wieso? Sollte ich? Sehe ich etwa aus, wie ein Laufbursche?"

„Nein, ich...", begann Falrey und lief rot an. „Tut mir leid, ich dachte..."

„Zufällig habe ich tatsächlich eine", grinste Misty.

Falrey hätte ihn am liebsten am Kragen gepackt und geschüttelt. Er hatte jetzt nicht die Nerven für so etwas.

„Heute oder morgen um Silur in der Gasse neben Vigis Krämerladen", sagte Misty. „Ich hoffe, du weisst, wo das ist, wenn du dich beeilst, könntest du es nämlich grad noch schaffen", fügte er mit einem abschätzenden Blick zum Himmel hinzu.

Falrey machte auf dem Absatz kehrt und lief mit einem gerufenen „Danke!" zum Brunnen. Er wusch sich, zog sich die Weste wieder über und eilte weiter. Einen Moment lang fragte er sich, ob er eigentlich paranoid war, als er feststellte, dass er automatisch einen Umweg nahm, als wollte er mögliche Beobachter verwirren. Andererseits war sein Gegenspieler Eirun und solange Falrey ihn nicht besser einschätzen konnte, traute er ihm alles zu – immerhin hatte er auch nicht gezögert, ihn anzulügen, also wer wusste, wozu er sonst fähig war.

Als er schliesslich in die Gasse einbog, stand Nemi bereits da. Sie drehte sich um, als er ihren Namen sagte, der Saum ihres Kleides schwang mit der Bewegung und eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, fiel ihr ins Gesicht. Über ihre Lippen legte sich ein breites Lächeln. „War mir nicht sicher, ob du kommst."

„Ich habe es eben erst erfahren", erwiderte er verlegen. Er trat zu ihr und ergriff ihre Hände. Sie zog ihn in den Schatten eines Hauseinganges und küsste ihn. Eine ganze Weile lang standen sie so da, ohne sich gegenseitig loszulassen, selbst als Nemi den Kuss irgendwann löste, hielt Falrey sie weiter an sich gezogen, vergrub das Gesicht in ihren Haaren, während er sich gegen die Hausmauer lehnte. Erst als er sicher war, dass seine Stimme nicht mehr brechen würde, fragte er leise: „Was haben deine Eltern eigentlich zu dir gesagt, wegen mir?"

Niramun II - Mörder und BastardWhere stories live. Discover now