Kapitel 81 - Blut und Tränen

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Auf Rückmeldung und nach einigem Überlegen, bzw. Rat Einholen habe ich beschlossen, diesem Kapitel nachträglich eine Warnung hinzufügen. Also: Achtung, starker Tobak, physisch, aber auch emotional. Und ich stehe gerne zur Verfügung, wenn ihr jemanden zum Reden braucht.


Vetts Worte klangen Falrey nach, als er durch die leeren Gassen nach Hause schlenderte. Sieh zu, dass was daraus wird. Das würde er. Vielleicht wusste er noch nicht genau, wie er das anstellen wollte, und vielleicht würde es in eine andere Richtung laufen, als Vett erwartete, aber eines Tages würde er das Leben führen, in das er gehörte. Niramun und die ganze Ungerechtigkeit hinter sich lassen und sich seine eigene Heimat aufbauen, mit Nemi, für seine Kinder. Er würde ein Bauer sein, und ein Vater. Einer, der da war und nicht einfach verschwand, ohne überhaupt zu wissen, dass er einen Sohn hatte.

Ein Teil von ihm fragte sich, wovon Vett träumte, immerhin hatte er die Frage nicht beantwortet, auch wenn es nicht wirkte, als wäre er ihr absichtlich ausgewichen. Vett schien generell nicht jemand zu sein, der irgendetwas auswich, er war so geradlinig, so selbstsicher. Dennoch fiel es Falrey überraschend schwer, ihn einzuordnen. Er war gross, stark, aber vor allem musste er ziemlich schlau sein, immerhin verstand er nicht nur, wie diese ganzen Mechanismen funktionierten – womit Falrey selbst Mühe genug hatte – er entwickelte sie. Und trotzdem war er kein bisschen überheblich, weder in seinem Verhalten, noch in seiner Ausdrucksweise. Er mochte über komplizierte Dinge sprechen, aber er tat es wie jeder andere Arbeiter. Vermutlich war er hier aufgewachsen.

Falrey gefiel das. Nicht nur Vetts gelassene Art, sondern auch die Tatsache, dass hier in den Fabriken auch die anspruchsvolleren Stellen mit Leuten aus dem Viertel besetzt wurden, anstatt dass man dafür irgendwelche Schnösel aus dem Norden hernahm, die sich ohnehin schon für etwas besseres hielten. Es war gerechter. Wenn sie schon die Drecksarbeit machten, waren es immerhin auch ihre hellen Köpfe, die bestimmten, wohin es ging. Und nach allem, was Vett erzählt hatte, hatte Falrey tatsächlich das Gefühl, dass sie damit die anderen, die so gefangen waren in ihren immer dagewesenen Strukturen, irgendwann überflügeln konnten.

Es war ihm nie wirklich aufgefallen bisher, aber wenn er jetzt darüber nachdachte, hatte er noch keine einzige normale Schmiede gesehen in Niramun. Natürlich, wozu auch? Werkzeuge, Messer, Gürtelschnallen, all das wurde hier hergestellt, im Neuwerk, im Feuerschlot und all den anderen Werkgeländen, in denen viele Leute zusammen so viel schneller arbeiteten, als es ein einzelner Handwerker und sein Gehilfe jemals vermocht hätten. Wenn es nach Vett ging, würden die Seilereien das nächste sein, was verschwand. Seile aus Stahl. Das... das war verrückt. Schon allein, dass es möglich war, ganz zu schweigen davon, was es alles verändern konnte.

Falrey musste sich eingestehen, dass er die Welt tatsächlich noch nie so betrachtet hatte, wie Vett sie sah. Er war nach Niramun gekommen und hatte dieses ganze Durcheinander aus Handel und Beziehungen zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten und Kreisen als ein Muster wahrgenommen, das extrem anders war als alles, was er kannte, und so viel komplizierter, dass er grosse Mühe hatte, irgendetwas davon zu verstehen und durchschauen, aber er war davon ausgegangen, dass es aufging, als Gesamtes funktionierte, ein Gleichgewicht war, in dem alles seinen Platz hatte und ineinander spielte. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass es sich veränderte. Dass manche Komponenten darin plötzlich verschwinden konnten, andere neu auftauchen, womit sich all die gesponnenen Fäden verschoben und anpassten, dass das vielleicht sogar ständig geschah. Es war kein Teppich, den jemand einmal gewoben hatte und in dem seither jede Farbe ihren Platz hatte, sondern mehr wie Farbkleckse in Wasser: warf man einen Stein hinein, veränderte sich alles.

Unwillkürlich fragte er sich, wie gross dieser Stein sein musste. Reichte die Ankunft eines einzelnen Jungen aus den Wäldern, um die Muster ein kleines Stück zu verschieben? Was hatte er verändert, einfach nur dadurch, dass er hier war? Das war schwer einzuschätzen. Im ersten Moment hätte er geantwortet: Nichts, aber je länger er nachdachte, desto mehr mögliche Punkte fielen ihm ein. Emilas Leben, und Jaz vielleicht noch mehr. Aber was für einen Einfluss hatte das wiederum auf Emilas Freunde, auf Jaz Arbeitgeber, auf seine Opfer? Wäre Jaz Seniah jemals begegnet, wäre Falrey nicht dabeigewesen? Hätte Djora die Stelle im Liliths bekomme und behalten, hätte er nicht vor ihm dort gearbeitet? Wäre Sovi zum Säufer geworden, hätte Falrey ihm nicht ins Gewissen geredet? Hätte Emila Bodir kennen gelernt? Wäre Poss in dieselben Häuser eingebrochen? Wäre Jaz überhaupt noch am Leben? Er konnte keine der Fragen beantworten, zu vieles spielte mit hinein, das zu denselben Ergebnissen hätte führen können, oder zu ganz anderen. Es war viel zu komplex.

Niramun II - Mörder und BastardWhere stories live. Discover now