Kapitel 59 - Zukunftspläne

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Falrey arbeitete fast jeden Tag die nächsten Wochen über. Poss versuchte ihn nicht zu erreichen und Jaz ging seinen eigenen Geschäften nach, also hatte er wenig anderes zu tun. Abends traf er sich mit Nemi und einige Male machte er einen Abstecher in den Hopfentopf, wenn sie keine Zeit hatte, aber er blieb nie lange. Prke fragte ihn nach Jaz, doch Falrey antwortete nur mit einem Schulterzucken. Er wusste nicht, was Jaz tat, wieso er nicht mehr auftauchte, um mit der Clique zutrinken. Scheinbar erledigte er Aufträge, denn es war wieder mehr Geld in der Büchse im Schrank, aber er verlor kein Wort darüber, was er tat, wenn er manchmal mehrere Tage fort war, weder gegenüber Emila noch Falrey.

Es wurdevon Tag zu Tag heisser, je weiter der Frühling in den Sommer überging und besonders das Arbeiterviertel mit seinen engen Gassen, in denen die Luft stand, verwandelte sich in einen staubigen, verrauchten Glutofen. Falrey folgte dem Beispiel anderer Arbeiter und borgte sich von Emila ein Stück Stoff, dass er sich vors Gesicht band an Tagen, an denen es besonders schlimm war, um nicht beständig den Russ und den Kohlestaub einzuatmen.

Nachdem  er ihr erzählt hatte, wo er arbeitete, damit sie sich keine Sorgenmachte, begann sie ihm wieder Brote zu streichen und am Abend bereit zu legen, damit er sie am Morgen, wenn er vor allen anderen aufstand und aufbrach, mitnehmen konnte. Deshalb ass er nun mit den anderen im Schatten der Fabrikhallen zu Mittag und obwohl die Gruppen jeden Tag neu gemischt wurden, kannte er allmählich einige Gesichter.

Schnell lernte er auch, dass es Welten gab unter den Vorarbeitern. Manche schienen nur darauf aus, einen anzuschreien, oder trugen sogar Knüppel auf sich, um zu schlagen, wer zurückblieb. Falrey versuchte sich von ihnen fernzuhalten und nicht aufzufallen, nicht nur wegen der Schlagstöcke, sondern weil er feststellte, dass er es nicht ertrug, beschimpft und zur Schnecke gemacht zu werden. Es machte ihn viel zu wütend und er wollte nicht am Ende eine Schlägerei anzetteln – einerseits, weil er gegen jemanden, der bereits sein Leben lang Kohlesäcke schleppte, vermutlich keine Chance gehabt hätte, andererseits, weil seine Hand immer noch schmerzte, wenn er sie ganz zur Faust ballte. Umso mehr freute er sich jedes Mal, wenn er Lons zugeteilt wurde, denn er war nicht nur sehr korrekt gegenüber seinen Arbeitern, sondern gab Falrey auch den einen oder anderen nützlichen Hinweis dazu, wie er die Last anpacken und sich bewegen musste, um so viel Kraft zu sparen wie möglich.

Davon abgesehen sprach Falrey wenig mit anderen, auch nicht beim Mittagessen, aber er setzte sich in ihre Nähe und hörte zu. Einige Male waren auch Frauen im Arbeitstrupp dabei, wobei sie abgesehen von der Bekleidung und einer leicht anderen Körperform wenig von den Männern unterschied, denn sie waren gross, stämmig, hart im Gesicht und genauso stark und russverdreckt wie der Rest. Ezali hätte neben ihnen ausgesehen wie eine Lilie neben einem Eichenstamm und auch Samalja, obwohl grösser und breiter, war sanft und verspielt im Vergleich.

Falrey dachte an seine Mutter. Im Gegensatz zu den Mädchen vom Liliths war sie sich schwere Arbeit sehr wohl gewohnt gewesen, ihre Hände oft rauh und rissig von der Arbeit auf den Feldern oder vom Holz hacken, ihr Griff kräftig, und doch war sie so anders gewesen als diese Frauen hier, so viel leichter, federnder, als würde sie durch das Leben tanzen wie der Wind durch einen Sommerwald. Er vermisste sie. Sehr. Manchmal dachte er tagelang nicht daran, doch dann plötzlich erinnerte er sich wieder. Wie sie gewesen war. Dass sie fort war, für immer, nie wieder ein Teil dieser Welt sein würde. Dann standen ihm die Tränen zuvorderst. Nicht mehr so sehr, weil er sie verloren hatte, sondern weil er mehr und mehr begriff, was für ein besonderer Mensch sie gewesen war. Wie wenig sie es verdient hatte, so jung zu sterben. Solange sie lebte, hatte er sie immer nur als seine Mutter gesehen. Erst jetzt, da sie tot war, verstand er, dass so viel mehr in ihr gesteckt hatte. Eine Rebellin, die sich über alle Regeln hinwegsetzte und das Dorf verliess um weit fort in einer Stadt zu arbeiten, egal, was die Leute davon hielten. Eine Heldin, die sich für ein ungeborenes Leben entschied, ungeachtet der gesellschaftlichen Ächtung, die es mit sich brachte. Sie war nicht nur gut und sanft gewesen, sondern auch unglaublich stark. Warum gingen die besten zuerst?

Niramun II - Mörder und BastardWhere stories live. Discover now