Kapitel 73 - Vissuri

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Sie drängten sich nach draussen und Falrey blieb stehen, um sich einen Überblick darüber zu verschaffen, welche Essensbuden noch offen hatten. Von irgendwoher wehte ein Geruch von gebratenem Fleisch, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen liess. Jaz zündete sich ein Schilf an. „Kannst du eigentlich alles Essen gleich wenig ausstehen?", fragte Falrey.

Jaz schüttelte den Kopf. „Bohnen sind besser als das meiste. Brot ist der Tod. Allgemein, je mehr Jaruks etwas drin hat, desto eher kommts mir fast wieder hoch."

„Ausser Martenbrand?"

„Das ist nichts zu essen."

„Was ist mit Fleisch?"

„Keine Ahnung", meinte Jaz. „Hatte ich ewig nicht mehr."

„Ich auch nicht", meinte Falrey. Emila kochte nie etwas mit Fleisch. Vermutlich weil es zu teuer war. Er entdeckte den Stand, von dem der Geruch stammte und beschloss, einen Blick darauf zu werfen, ob die Preise zahlbar waren.

Kurze Zeit später kehrte er mit zwei Drahtspiessen zurück, auf die Stücke von Hähnchenfleisch gereiht waren. Er drückte Jaz einen davon in die Hand und stellte sich neben ihn, um herzhaft in den obersten Fleischbrocken zu beissen und ihm mit den Zähnen vom heissen Spiess zu ziehen. Das Fleisch war gut gewürzt, scharf und irgendwie süss. Falrey schloss die Augen und kaute genüsslich. Als er zum zweiten Mal abbiss, warf er einen Blick zu Jaz hinüber, der sein Schilf weggeworfen hatte und am Spiess herumknabberte.

„Und?", fragte Falrey mit vollem Mund. „Gut?"

Jaz grinste. „Besser als Rattenfleisch."

Falrey sah ihn einen Augenblick lang ungläubig an. „Du hattest so lange kein Fleisch mehr?"

Jaz zuckte nur mit den Schultern und ass weiter.

Falrey liess den Blick über den Platz schweifen. Es waren immer noch Leute unterwegs, auch wenn sich die Menge allmählich lichtete, wie immer um diese Zeit. Ein normaler Abend auf dem Runden Platz. Dabei war heute Mittsommer, ein Tag, von dem er erwartet hätte, dass ihm in einer Stadt, deren Leben so nach dem Lauf der Sonne ausgerichtet war, mehr Bedeutung beigemessen würde. In Leppir hatte es immer ein grosses Fest gegeben, man hatte Feuer angezündet, Jedrin hatte seine Geige hervorgeholt, es wurde getanzt, gesungen und jede Menge gegessen und getrunken, um den längsten Tag des Jahres zu feiern, den Beginn der wärmsten Zeit des Jahres. Ihm ging nicht in den Kopf, wie ausgerechnet eine Stadt, die eine gigantische Sonnenuhr war und in der die Tageslänge eine solche Bedeutung hatte, weil sich grosse Teile der Bevölkerung nach Sonnenuntergang kaum noch vor die Tür trauten, ein solches Datum einfach ignorieren konnte.

Er schluckte seinen Bissen herunter und leckte sich über die Lippen. „Warum feiert hier niemand Mittsommer?" Er sah Jaz an. „Ich meine, bei diesem ganzen Die Sonne gab uns die Zeit, wieso interessiert sich niemand für die Sonnenfeste?"

Jaz schwieg einige Atemzüge lang nachdenklich, bevor er meinte: „Hat vielleicht mit der Revolution zu tun."

„Mit der Revolution? Wieso?", fragte Falrey interessiert. Er hatte schon wieder halb vergessen, dass es so etwas gegeben haben musste. Auch wenn es ewig her war.

„Weil die Sonne ein Zeichen des Königs war", antwortete Jaz.

Falrey sah ihn neugierig an, was Jaz dazu brachte, weiter zu sprechen. „Der König, der Nir, die da oben. Die sind das Sonnenvolk. Sie gehören zu Niramun und einst war das alles eins. Und die Sonne war wichtig für die Leute, weil sie ein Zeichen der Stadt war. Wie der Fluss. Wie der Stein. Aber mit der Revolution trennte sich das. Der Nir vom Mun. Die Sonne vom Mond. Kann mir vorstellen, dass die Leute danach nichts mehr feiern wollten, was mit der Sonne zu tun hatte. Dafür feiern sie Vollmond."

Niramun II - Mörder und BastardWhere stories live. Discover now