36. Cemetery

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♪ It's my life – Bon Jovi


N I A L L


Dem ersten gedanklichen Impuls, meine Mutter zu ignorieren und einfach an ihr vorbeizugehen, folgte ein zweiter, ein völlig anderer.

Ich musterte sie mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen. „Was willst du denn hier?"

Ihr Blick war klar, ihre Augen scannten mich von Kopf bis Fuß, bevor sie sprach: „Nach dem Rechten schauen, oder ist das verboten?"

Laut lachte ich auf und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Das konnte nicht ihr Ernst sein, oder? Seit Jahren pflegten meine Eltern keinerlei Kontakt mehr, sie waren geschieden und nicht einmal ich verband die beiden miteinander. Was also wollte meine Mutter hier, am Grab meines Vaters?

„Nach dem Rechten schauen?", wiederholte ich ihre Worte mit leicht spöttischem Unterton. „Bist du dir sicher, dass du dich nicht am Grab geirrt hast?"

Sie nahm eine stolze Haltung ein, als sie sprach: „Ja, das bin ich, Niall. Und es ist gut, dass wir uns hier treffen. Ich habe dir nämlich einiges zu sagen."

Nun war es um meine Beherrschung geschehen. Ich lachte lauthals los, konnte mich gar nicht mehr beruhigen. Doch dies war vielmehr ein Selbstschutz, ein Schutz, um nicht direkt auszurasten. Was bildete sich diese Frau ein? Sie hatte uns verlassen, mich als Fünfjährigen bei meinem Vater gelassen, ohne sich jemals wieder um mich zu kümmern.

Ich brauchte keine weitere Erklärung von ihr, denn diese Frau besaß kein Herz. Vermutlich saß an der Stelle des Organs, das das Blut durch die Adern pumpte und für mancherlei Gefühle verantwortlich war, ein großer, fetter Stein.

Steine besaßen keine Emotionen und dies würde absolut zu ihr passen.

Das Glimmen ihrer braunen Augen, die mich weiterhin musterten, wurde stärker, je heftiger ich lachte. Zugegeben, die Situation hatte schon etwas Komisches an sich. Wir hatten uns Ewigkeiten nicht gesehen, wenn man von der Beerdigung meines Vaters vor einigen Wochen absah, und nun trafen wir uns per Zufall an seinem Grab.

Irgendwann hörte ich auf zu lachen, blickte auf sie herab, denn sie war gut zwanzig Zentimeter kleiner als ich und sagte: „Ich wüsste nicht, was du mir zu sagen hättest. Ich weiß alles über dich, was ich wissen muss und das reicht mir bis zum Lebensende."

Zum ersten Mal kam Leben in die zierliche Frau, die mir gegenüber stand. Die Ruhe und die Gleichgültigkeit fielen von ihr ab und sie ging zwei Schritte auf mich zu. „Du weißt gar nichts über mich, Niall. Denn du warst noch viel zu klein, als wir uns trennten. Außerdem kennst du nur die Version deines Vaters, aber nicht meine."

Leicht hob ich die Augenbrauen. „Und wenn ihr dir sage, dass mir seine Version vollkommen ausreicht, um mir ein Urteil zu bilden?"

Zu gerne hätte ich mir jetzt eine Zigarette angesteckt, um mich zu beruhigen, aber das Rauchen auf dem Friedhof kam gar nicht gut, es gehörte sich nicht und war sowieso nicht gestattet. Eigentlich pfiff ich auf Verbote, aber ich selbst empfand es als pietätlos, mir vor dem Grab meines Vaters eine Kippe anzuzünden. Und wenn es mir noch so sehr danach gelüstete, ich widerstand dem Drang und konzentrierte mich stattdessen auf ihre nächsten Worte.

„Man sollte sich immer beide Seiten anhören, um ein Urteil zu bilden, denkst du nicht auch? Oder hat er dich nicht so erzogen?"

„Doch, natürlich hat er das!", blökte ich los und ärgerte mich in diesem Moment über mich, weil ich drauf und dran war, mich auf dieses blödsinnige Gespräch einzulassen.

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