FÜNF

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Am nächsten Morgen waren die Türen an den Schrank angeschraubt und meine Kleider ordentlich darin einsortiert. Ich hatte es geschafft, die zwei Lerneinheiten sowie meine Laufrunde zu absolvieren. Da ich es mir nicht hatte nehmen lassen, gemütlich mit Mom und Eugenia zu Abend zu essen, musste ich mir die Zeit vom Schlaf abzwacken, um alles nach Plan zu erledigen. Es war schon weit nach Mitternacht, als ich endlich das Licht ausschaltete.

Dementsprechend sah ich am nächsten Morgen auch aus. Die dunklen Schatten, die einen krassen Gegensatz zu meinen hellblauen Augen bildeten, ließen mich aussehen wie einen hungernden Zombie. Es dauerte lange, die Misere mit viel Make-up zu überschminken.

Auf dem Weg vom Badezimmer blieb ich stehen und schnupperte. Ein verlockender Duft von frisch gekochtem Kaffee und selbstgebackenen Pancakes hatte sich bis ins obere Stockwerk ausgebreitet. Ich beeilte mich, nach unten zu kommen.

Eugenia stand mit einem Pfannenwender am Herd. Sie hatte eine Schürze umgebunden und summte etwas leise vor sich her. Immer wenn sie über Nacht blieb, verwöhnte sie uns mit einem leckeren Frühstück, das an anderen Tagen aus einem trockenen Toastbrot und einer Tasse Kaffee bestand.

»Du bist wie die Großmutter, die ich nie hatte«, scherzte ich, schnappte mir einen Pancake und biss hinein. Er schmeckte großartig. »Nur in jünger und stylischer.«

Eugenias glockenhelles Lachen erfüllte den Raum. Sie legte mir die Hand um die Taille und drückte mich sanft. Außer Mom war sie alles an Familie, was ich je gehabt hatte. Moms Eltern waren vor meiner Geburt gestorben und auch wenn es Verwandte auf der Seite meines Vaters gab, so hatte ich sie nie kennengelernt.

Ich vertilgte eine unvorstellbare Menge der himmlisch fluffigen Pancakes. Schließlich drückte ich Mom und Eugenia einen Kuss auf die Wange und stieg ins Auto. Um sicher zu gehen, dass ich nicht zu spät kam, fuhr ich in den ersten Wochen noch früher los als sonst.

Und so kam ich auch heute zeitig an, suchte den Raum, in dem englische Literatur unterrichtet wurde und setzte mich auf gut Glück auf eine der hintersten Bänke. In den Abschlussklassen schien es keine festen Sitzplätze zu geben, aber die meisten Schüler waren, meiner Erfahrung nach, Gewohnheitstiere, die sich jedes Mal wieder auf denselben Platz setzten. Ich hoffte einfach mal, nicht den Stammplatz von jemandem erwischt zu haben.

Um mir die Wartezeit bis zum Stundenbeginn zu verkürzen, schlug ich das Skript auf und ging meine verhassten Jahreszahlen samt zugehörigen Epochen durch. Weit kam ich nicht. Durch den Teppichboden gedämpfte Schritte verrieten mir, dass ich nicht mehr alleine war. Ich blickte auf und mein Herzschlag setzte eine Sekunde lang aus. Es war Jonas.

Er trug wie gestern seine graue Strickmütze auf dem Kopf. Unter der dunkelblauen Steppweste konnte ich ein langärmeliges weißes Shirt erkennen, dazu ausgewaschene blaue Jeans und Chucks. Selbst wenn Jonas auch zu Christopher Hunts Gruppe gehörte, passte er sich definitiv nicht an deren Kleiderordnung an.

Er schien nicht überrascht, mich zu sehen. Ein winziges, kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte seine Lippen, als unsere Blicke sich trafen. Unsicher grinste ich zurück und versteckte mich wieder hinter meinem Skript. Gestern hatte er nicht so gewirkt, als hätte er Interesse an mir. Nun würde ich in angespannter Stille ausharren müssen, bis wir nicht länger alleine wären.

»Hallo Lexie! Kann ich mich zu dir setzen?«, fragte er, plötzlich neben mir. Seine Stimme war angenehm tief und verursachte Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Ich zog möglichst unauffällig die hochgekrempelten Ärmel herunter.

»Ja.«

Hatte er bemerkt, wie heiser sich meine Stimme anhörte?

Er warf seinen Rucksack achtlos auf den Boden und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Schweigend packte er seine Sachen aus.

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⏰ Última actualización: Jul 27, 2020 ⏰

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