PROLOG

276 51 19
                                    

»Julie, jetzt hör mir doch mal zu!« Verzweifelt fuhr sich Larry mit den Fingern übers Kinn. Die kurzen Bartstoppeln, die sein sonst glattrasiertes Gesicht zierten, ließen ihn älter wirken als er war.

»Nein! Ich habe dir zugehört, ganz genau sogar. Und ich weiß jetzt, wie du dich entschieden hast.« Julie wischte mit dem Handrücken über ihre Wangen. Er färbte sich schwarz von der Mascara, die sich schon längst durch die Tränen aufgelöst und über ihr gesamtes Gesicht verteilt hatte.

»Du weißt, dass man nicht von einer Entscheidung sprechen kann, wenn man keine andere Wahl hat, oder?«, erwiderte Larry.

Er konnte nicht mehr. Der Streit zog sich schon über Stunden hin. Seine Nerven drohten an den dünnsten Stellen Risse zu bekommen und zu zerbersten. Das durfte nicht geschehen. Er durfte die Beherrschung nicht verlieren, sonst hatte er nicht die geringste Chance, Julie zu überzeugen.

Er machte einen Schritt auf sie zu und hatte das Gefühl, gegen eine Betonwand zu rennen. Sie weigerte sich, ihn an sich heranzulassen.

Verdammt nochmal! Wie hatte es nur so weit kommen können? Dieser Tag sollte der glücklichste seines Lebens werden. Er hatte Julie gefragt, ob sie ihn heiraten wollte.

»Jeder Mensch hat die Wahl, sich für das Richtige zu entscheiden. Er muss nur den Mut dazu haben«, flüsterte Julie. Ihre Stimme zitterte.

Larry schnaubte. »Und wenn das Richtige den Tod bedeutet?«

Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, schwarze Tuscheschlieren bildeten einen starken Kontrast zu ihren blassen Wangen.

Larry biss sich auf die Zunge. Er wusste, woran sie jetzt dachte – das grausame Ende ihrer Freunde. Die hatten damals auch das Richtige gewählt.

»Auch das ist eine Entscheidung«, sagte sie heiser und hob trotzig ihr Kinn an. »Man muss eben seine Prioritäten kennen.«

Larry raufte sich die Haare. Sie machte es ihm so schwer mit ihren Moralvorstellungen, mit ihrem Schwarz-Weiß-Denken von Gut und Böse. So einfach funktionierte die Welt nicht. Zwischen den beiden Extremen gab es eine breite Palette von Grautönen.

»Hörst du dir eigentlich selbst zu? Wenn du uns zur Flucht zwingst, ist es nicht nur dein Leben, das du riskierst. Es geht auch um mich. Und um unser Kind, sobald es auf der Welt ist.«

Er sah ihr in die Augen und legte all die Überzeugungskraft in seinen Blick, die er aufbringen konnte. Sie liebte ihn doch! Julie hatte Zugang zu seinen Gedanken wie niemand anderer. Sie konnte fühlen, was er fühlte. Also musste sie erkennen, wie wichtig ihm diese Entscheidung war.

Julie hielt mitten in der Bewegung inne, wischte sich die Tränen von den Wangen und erwiderte seinen Blick, tief in die Seele hinein. Spürte sie seine Entschlossenheit?

Er würde sich nicht erweichen lassen. Nicht in diesem Fall. Denn das, was sie verlangte, war Wahnsinn. Niemals würde er dieses Risiko eingehen. Die Battemberger waren zu mächtig, sie hatten nicht den Hauch einer Chance.

Da erlosch etwas in ihren Augen. War es Hoffnung? Ein schmerzhafter Stich ging durch seine Brust, doch seine Entscheidung war endgültig. Es gab keinen anderen Weg.

Mit einem Seufzer ließ sich Julie auf das Sofa fallen. Ihre schmale Gestalt versank in den weichen Polstern.

»Ich bin müde«, sagte sie.

»Dann solltest du jetzt ins Bett gehen, Liebes. Es war wirklich ein langer Tag. Für uns beide.«

Sie nickte.

Er verließ das Wohnzimmer und machte nebenan Julies Bett zurecht. Darin hatte er noch nie geschlafen, trotzdem wusste er genau, wie sie ihr Kissen platzierte und auf welcher Seite sie schlief. Die Tagesdecke landete neben drei Zierkissen auf dem Boden. Jetzt war nicht der Moment, auf Ordnung zu achten. Larry hatte Mitleid mit ihr. Julie musste schleunigst zur Ruhe kommen, in ihrem Zustand hatte das oberste Priorität.

Er stützte Julie am Arm und führte sie ins Schlafzimmer. Ihr Zustand bereitete ihm Sorgen. Die überschwappende Energie, die sonst ihr Wesen kennzeichnete, war aus ihrem Körper gewichen. Schlaff und widerstandslos ließ sie sich ins Bett legen. Ohne ein weiteres Wort schloss sie die Augen.

»Kann ich denn noch etwas für dich tun, Liebes?«, flüsterte Larry in die Dunkelheit hinein. Ihr Zustand beunruhigte ihn mehr, als er zugeben wollte.

Zu seiner großen Überraschung antwortete sie. »Könntest du ... Meine Lieblingskekse sind alle«, murmelte Julie und Larry stieß die Luft aus, die er unbewusst angehalten hatte. Wenn sie Lust auf ihre Kekse verspürte, war noch nicht alles verloren.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte er und eilte zur Tür. Er grinste in sich hinein, schlüpfte in seine Schuhe und zog sich die Jacke über.

***

Keine halbe Stunde später kehrte Larry, mit Julies Keksen bewaffnet, in die gemeinsame Wohnung zurück. Noch im Gehen streifte er die Schuhe ab. Der Holzboden knarzte bei jedem Schritt, er musste auf Zehenspitzen gehen. Vielleicht schlief Julie.

Dann erstarrte er. Irgendetwas stimmte nicht.

Was es war, konnte er nicht sagen, doch dem inneren Drang folgend, stürzte er ins Schlafzimmer. Der Raum war genauso dunkel, wie er ihn verlassen hatte. In ihm regte sich ein schrecklicher Verdacht.

Mit bebenden Fingern griff er nach dem Schalter. Die Deckenleuchte tauchte das Zimmer in gelbes Licht. Das Bett war leer.

Er hielt die ansteigende Panik zurück und hastete zum Kleiderschrank, riss die Türen auf.

Fehlte etwas? Larry inspizierte den Inhalt. Sah ganz danach aus. Alltägliche Kleidungsstücke wie Pullover, T‑Shirts und Jeans waren nicht mehr im Schrank. Die Stapel waren normalerweise höher, da war er sich absolut sicher.

Wie betäubt taumelte er zurück zur Eingangstür und starrte auf die Stelle, an der sonst immer Julies Schuhe standen. Sein Blick wanderte nach oben. Auch ihre Jacke hing nicht mehr am Garderobenhaken.

Julie! Wie konnte sie das nur tun? Wie konnte sie ihm das antun?!

Er ballte seine rechte Hand zur Faust. In der Linken hielt er immer noch die Kekse umklammert. Er wollte sie ins Regal räumen – nur, um irgendetwas zu tun.

Wie von einem Schlag getroffen torkelte Larry zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Wie in Zeitlupe glitt er an ihr hinab und ließ seinen Tränen freien Lauf.

Das Regal war nicht leer. Drei weitere Kekspackungen lagen dort, am gewohnten Platz.

Free - Dein Leben gehört dir? [Leseprobe]Where stories live. Discover now