Spiegel

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Nachts träume ich, ich wäre zu Hause. Die Sonne scheint, ich bin im Garten. Alles scheint so golden, alles ist wunderschön. Meine Schwester lacht. Ich lache. Plötzlich stolpere ich über eine Wurzel. Und ich falle, falle, falle. Immer tiefer ins Nichts, immer tiefer in die Dunkelheit. Bis ich mit einem Ruck aus dem Schlaf schrecke.

Ich atme tief durch und versuche das Bild des Gartens in mir festzuhalten. Die Wärme. Das Lachen. Denn mir ist klar, dass ich so bald nicht nach Hause kommen werde. Auch wenn ich nicht so wirklich weiß, warum das so ist. Langsam verblasst der Traum und ich bleibe ohne ihn zurück. Nochmal tief durchatmen, dann öffne ich die Augen. Ich bin in meinem Zimmer, im Internat. Pardon, in unserem Zimmer. Ich sehe Hiwa, die gerade dabei ist, ihr dunkelblaues Kopftuch über ihr Haar zu ziehen. Von der Seite starrt sie mich mit ihren großen, fast schwarzen Augen an. Sie zu sehen, fühlt sich an als würde mir jemand in den Bauch boxen. Sofort wünsche ich mich wieder zurück in meinen Traum, noch mehr als schon zuvor. Doch anstatt diesem, läuft die Erinnerung an gestern Abend wie ein Film in meinem Kopf. Immer und immer wieder spüre ich die Demütigung, den Zorn, die Einsamkeit.

Abschätzig schnaube ich auf. Die können mich mal! Langsam setze ich mich auf. Ob ich Hiwa fragen soll, wo meine Kleidung ist? Ach was, als ob die mir antworten würde! Die beiden würden mich doch eh nur wieder ignorieren. Oder mir einzureden versuchen, dass ich ein Geist bin. Dafür ist es noch zu früh. Ich habe noch keine Kraft für dieses Gerede!

Ich stehe auf und trotte zu meinem Schrank. An der Innenseite jeder Schranktüre hängt ein kleiner Spiegel, deswegen öffne ich ihn. Kurz bleibt mein Blick an den fast leeren Regalbrettern hängen, auf denen eigentlich meine Kleidung liegen sollte, doch ich zwinge mich, ihnen keine weitere Beachtung zu schenken. Dann blicke ich in den Spiegel und fange automatisch an, mein Haar mit den Fingern zu durchkämmen. Doch etwas stimmt hier nicht. Perplex lasse ich die Hände sinken. Ich starre in den Spiegel. Dann schreie ich. Was ist hier los? Wo ist mein Spiegelbild? Wo bin ICH?

Mit zitternden Fingern taste ich den Spiegel ab. „Bitte, sagt mir, dass das ein Scherz ist!", fauche ich Hiwa und Lisa an. „Wo ist mein Spiegelbild? Das ist nicht mehr lustig, hört doch endlich auf damit!"

Trocken schluchze ich auf. Unter meinen Fingern ist Glas. Nur Glas, kaltes Glas. Kein Papier, kein Foto unseres Zimmers, nichts, das auf einen grausamen Scherz hinweisen könnte.

Hiwa nähert sich von hinten. Ich sehe ihre Reflektion im Spiegel immer näher kommen, dort, wo eigentlich ich sein sollten. Panisch schluchze ich auf.

„Wie macht ihr das?", wimmere ich. „Warum bist da nur du? Warum sieht man mich nicht? Ich verstehe das nicht!"

Auf Hiwas Gesicht spiegelt sich Verwirrung und Ratlosigkeit. Ich drehe mich um und blicke zu Lisa – das gleiche Bild. Ängstlich spielt sie mit der Schleife am Hals eines kleinen Stoffnilpferdes, das sie fest an sich drückt hält.

„Ihr seid das gar nicht!", stelle ich fassungslos fest. „Oh Gott, ihr wisst selbst nicht, was hier passiert!"

Ein markerschütternder Schrei der Panik entfährt mir.

Was, wenn die zwei Recht haben? Aber ich bin doch kein Geist, oder? Ich kann kein Geist, sein. Das wüsste ich doch, wenn ich gestorben wäre. Nicht? Irgendwas hätte ich doch merken müssen. An irgendwas müsste ich mich doch erinnern!

„Ich bin kein Geist!", entfährt es mir. „Ich kann kein Geist sein!"

Hiwa und Lisa starren mich wie gebannt an.

„Ich kann kein Geist sein,", versuche ich zu erklären, „weil ich dafür hätte sterben müssen. Aber ich bin nie gestorben. Also kann ich auch kein Geist sein. Das alles muss sich anders erklären lassen, ich bin mir sicher, dass..."

„Aber was", unterbricht mich Lisa, „Was, wenn du es vergessen hast?"

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 16, 2018 ⏰

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