Die Ankunft

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Am ersten Schultag des neuen Jahres, war der Himmel strahlend blau. Ein so tiefes Blau, dass man nicht länger als ein paar Sekunden hinaufsehen konnte, ohne das Gefühl zu bekommen, sich in Luft aufzulösen. Deswegen blickte ich nicht hinauf. Die Angst, plötzlich von diesem leichten Windhauch fort getragen zu werden, ist zu groß.

Nervös umklammere ich die Träger meiner Umhängetasche. Sie war ein Geschenk meiner Eltern, zu meinem 15. Geburtstag. Mein Name war in einem zarten Gelbton an den unteren Rand gestickt: Charlotte.
Charlotte Gruber. Das ist mein Name. Ich darf ihn nicht vergessen, ich darf nicht vergessen, wer ich bin.

An mir läuft eine Gruppe Mädchen vorbei. Sie sind schon länger hier, ich kenne sie. Gehen sie in die sechste Klasse? Die siebte? Ich weiß es nicht!
Ich rufe ihnen einen Gruß nach, doch sie bemerken mich nicht. Schade.

Wie jedes Jahr laufe ich allmählich zum Hauptgebäude. Plötzlich rauscht ein großer Wagen an mir vorbei. Um ein Haar hätte er mich umgefahren! Ich kann die Umrisse eines Mädchens hinter den Scheiben erkennen. Ihr Vater steigt aus und läuft um den Wagen herum. Die Tür auf ihrer Seite fliegt auf, doch das Mädchen bleibt sitzen. Sie ist abgeschnallt, doch sie steigt nicht aus. Ihr Vater holt etwas aus dem Kofferraum, währenddessen lässt sie ihren Blick schweifen. Ihre Augen blitzen Spitzbübisch. Nun kommt ihr Vater nach vorne, er trägt etwas. Einen Rollstuhl. Ach deswegen ist sie nicht aufgestanden! Vorsichtig, als wäre sie aus Porzellan, hebt ihr Vater sie in den Stuhl. Dankbar grinst sie ihn an, dann will sie losrollen. Er hält sie fest. Unwillkürlich verdreht seine Tochter die Augen.
"Lisa!", ermahnt der Mann sie und Lisa lacht.
Der Mann blickt sie ernst an. "Du weißt, wie schwer es war, diesen Platz für dich zu bekommen, oder?"
Lisa nickt brav und rollt die Augen. Ihr ist anzusehen, dass sie diese Predigt schon mindestens eine Millionen Mal gehört hat.
"Bitte nutze deine Chance, hier!", bittet der Mann seine Tochter, " Und halte dich an die Regeln! Spiel den Lehrern nicht immer Streiche. Bitte!"
"Ich spiel den Lehrern nicht immer Streiche...", versucht sie ihn zu unterbrechen, doch ein Blick aus seinen bettelnden Augen genügte um sie zum Schweigen zu bringen.
"Ich lass mich nicht erwischen, versprochen!", nuschelt Lisa und schenkt ihrem Vater ein gequältes Lächeln, "Diesmal schaffe ich das Probemonat ohne Nachsitzen und ohne Extrarunden um den Trainingsplatz und ohne Strafarbeit und ohne.."
"Bitte!", stöhnt der Mann, doch auf seine Lippen hat sich ein freundliches Lächeln gestohlen.

Wie durch einen Sog werde ich vorwärts gezogen, meine Beine tragen mich ganz automatisch in Richtung Aula, weg von dem Mädchen mit haselnussbraunen Augen und Haaren und einem breiteren Lächeln als ich je hatte.
Die Zettel für die Zimmereinteilung hängen wie immer an der linken Wand neben dem Eingang. So war das schon seit Jahren.
" 249!", schießt es mir durch den Kopf. Meine Zimmernummer. Das Zimmer mit dem Blick über die sanften Hügel, in Richtung Sonnenuntergang. Mit der alten Eiche, deren Wurzeln jedes Jahr Ärger machen, weil sie die Wand irgendwann kaputt machen könnten.
Aber auch, wenn das schon immer mein Zimmer war, musse ich nachsehen, ob sich was geändert hat. Also bahne ich mir meinen Weg durch die schnatternden Neuankömmlinge. Tief in mir nagte die Frage, warum ich alleine war, an meinem Selbstbewusstsein. Wo sind meine Eltern? Müssen sie arbeiten? Schon wieder? Es ist lange her, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Kurz schießt ein Erinnerungsfetzen durch meinen Kopf, doch das einzige, das mir von ihm bleibt, ist der reißende Wind, eine tiefe Stimme und lautes Weinen. Ich schüttle mich und atme tief durch. Dann beginne ich meine Namen zu suchen. Gruber. Charlotte Gruber. Doch da ist nichts. Also hat sich nichts geändert, oder? Das muss es bedeuten.

Schnell möchte ich mich auf den Weg in mein Zimmer machen, doch mein Blick bleibt an einem Mädchen hängen, das genau so alleine ist, wie ich. Sie umklammert ihren Koffer so fest, dass ihre Knöchel weiß heraus stehen. Sie sticht heraus und das weiß sie. Es liegt nicht nur an ihrem zartblauen Kopftuch, nicht nur an ihren schwarzen Haaren, von denen nur ein paar Strähnen sichtbar sind, nicht nur an ihren schwarzen Augen, die alles und jeden Mustern. Es ist ihre Ausstrahlung, die sie heraus stechen lässt. So, als würde sie über all dem stehen, was hier passiert.
Ihr Finger liegt auf einem Namen der Liste. Ihrem Namen. Leise formt sie ihn mit den Lippen. Hiwa. Zimmer 249.

Ich könnte auf sie warten, doch ich befürchte, dass sie mich ignorieren könnte, also mache ich mich auf den Weg in mein, nein, in unser Zimmer. Um dort ein bisschen Ruhe zu finden. Doch die gibt es für mich nicht, denn das Mädchen mit Rollstuhl und ihr Vater sind schon da. Sie scherzen laut und packen ihre Koffer aus.
Ich grüße sie schüchtern, doch sie bemerken mich nicht.

ApfelwolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt