Kapitel 28

203 14 0
                                    

Die halbe Nacht lag ich wach, denn ich konnte an nichts anderes denken als daran, was Raziel seinem Bruder angetan hatte. Raphael hatte Recht, es wäre wohl besser ich hätte nie erfahren wer hinter all dem gesteckt hat. Nun betrachtete ich seinen Bruder mit ganz anderen Augen. Auch, wenn es schon Jahrtausende her war.

Ich betrachtete Raphael im Dunkeln so gut ich konnte. Er schlief so friedlich. Ein Flügel ausgestreckt und über mich gelegt. Eine Geste, die mir noch immer ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Nur gerade nicht. Denn es erinnerte mich nur daran, wo er durch musste. Allein, denn ich bezweifelte stark, dass es damals einen der anderen Erzengel interessiert hatte.

Als es langsam hell wurde stand ich seufzend auf, denn ich würde eh nicht weiter schlafen. Also ging ich in die Küche, wo ich Cora vorfand. Sie rührte mit dem Löffel in ihrer Tasse, während sie mich betrachtete. "Können wir reden?", wollte ich wissen und nahm mir ebenfalls eine hinaus. Dort füllte ich Kaffee hinein.

Sie nickte und ich lehnte mich an die Theke. "Es tut mir leid...was Azzurra passiert ist", sagte ich und meinte jedes verdammte Wort ernst. Nun blickte Cora zu ihrer Tasse. Dabei fiel ihr braunes langes Haar ihr ins Gesicht. "Es ist eure Schuld", entgegnete sie. Eure. Damit meinte sie Seth und mich.

"Ihr hattet eine Wahl. Und habt euch gegen sie entschieden." Harte Worte. Sie gab uns die Schuld an Azzurras Tod und würde das vermutlich immer tun. Egal was kommen wird. "Wir hatten keine Wahl", verbesserte ich mich. Die Seelen und Doppelgänger wären uns gefolgt. So waren sie abgelenkt.

Auch wenn es mir kalt den Rücken hinunter lief, nur daran zu denken, wie Azzurra uns Zeit verschafft hatte. Noch immer konnte ich bildlich vor mir sehen, wie sie sich ihr Schwert in den Bauch rammte. Wie schnell eine Blutlache auf dem Boden entstand und wir verschwanden. Es war ein ehrenhafter Tod. Wer weiß, was sie mit ihr getan hätten, wenn sie sie mitgenommen hätten.

Cora sah auf. Ihr stand die Kälte ins Gesicht geschrieben, mit der sie ihre nächsten Worte aussprechen würde. "Man hat immer eine Wahl, Citiana." So nannte sie mich nie. Irgendwie tat es weh, denn in gewisser Art und Weise beendete sie gerade unsere Freundschaft. Diesen Verrat würde sie mir niemals verzeihen. Dabei waren wir in den zehn Jahren glücklich gewesen. Ein Vorbild für beste Freunde.

Lachend saßen Cora und ich in ihrem alten Zimmer. Schon lange waren wir nicht mehr hier, doch jetzt hatten wir uns hierhin zurückgezogen. Wir wollten alleine sein. Währen Azzurra und Raphael Regierungsgeschäfte erledigten, langweilten wir uns. Cora hatte eine Flasche Wein heraus gekramt und wollte sie gerade öffnen.

"Halt", stoppte ich sie. Verwirrt sah sie mich an und runzelte die Stirn. "Seit wann lehnst du Alkohol ab, City? Bist du krank?", wollte sie wissen und musterte mich mich ihren braunen Augen etwas. Ich verdrehte leicht die Augen. In der Tat tranken wir manchmal etwas. Häufig auch zusammen mit Brooke und Azzurra. 

Doch ich konnte heute nicht. Eine Weile sah ich Cora an. Sie war meine beste Freundin. Ich würde ihr das sagen können. Warum also fiel es mir so schwer? Vielleicht, weil ich es selber nicht glauben konnte? Tief atmete ich durch, bevor ich die Worte zum ersten mal laut aussprach.

"Ich bin schwanger", sagte ich. Coras Mund klappte auf. Erneut musterte sie mich, bevor sie die Flasche beiseite stellte. "Wie...seit wann?", wollte sie ungläubig wissen. "Das wie muss ich dir wohl nicht erklären", scherzte ich und sie schlug mir leicht lachend gegen den Arm.

"Seit wann weißt du es?", wollte sie dann wissen. "Drei Wochen", gab ich zu. Ich war in meinem dritten Monat, jedenfalls sagte die Ärztin das. Da ich meine Periode immer unregelmäßig bekam, hatte ich mir nicht allzu viele Gedanken gemacht. Anfangs. Doch dann kam sie wirklich nicht mehr. 

Nun begann Cora zu grinsen. "Ich werde also Tante." Während sie das sagte, klatschte sie leicht in die Hände. Definitiv freute sie sich über diese Nachrichten und ich nickte. Doch auch wenn sich ein sehr großer Teil von mir ebenfalls freute, gab es da noch einen anderen. Der, der Angst davor hatte, es Raphael zu sagen.

Wir wollten warten. Die Zeit genießen. Heiraten. Wir waren verlobt und wollten erst danach eine Familie planen und gründen. Auch wenn er Zweifel hatte, da es Nephilim sein würden, halb Mensch, halb Engel. Niemand wusste genau, ob sie wirklich friedlich waren. Und wie viel Macht sie besitzen würden.

Scheinbar standen meine Sorgen mir ins Gesicht geschrieben, denn Cora nahm meine Hände und schenkte mir ein breites Lächeln. "Raphael wird sich darüber freuen, City", sagte sie. Unsicher sah ich auf. "Wird er? Ich bin mir da nicht so sicher", gab ich zu. Doch sie nickte.

"Vertrau mir, er wird sofort deinen noch nicht wirklich vorhandenen Bauch küssen", meinte sie und begann dann zu grinsen. "Ich freu mich so darauf, dieses Kind zu verwöhnen. Ich werde definitiv die coole Tante." Nun musste ich lachen. Oh ja, das würde sie werden. 

Wie sehr ich diese Zeiten vermisste. Alles war so einfach in diesen zehn Jahren. Unsere Freundschaften und Beziehungen hatten sich vertieft. Und nun? Malia und Azzurra waren tot und Raziel war nicht mehr der, den wir kannten. Alles hatte sich verändert.

Wir hatten neue Freunde und Verbündete. Aber vor allem hatten wir neue Feinde. Feinde, die vor nichts zurückschreckten. Doch das schlimmste an allem war, dass wir unsere eigenen Feinde waren. Ich stand mir selbst gegenüber. Meiner bösen Version, doch noch immer wusste ich nicht, weshalb genau sie existierte.

Cora verließ die Küche und ich sah ihr nach, während Freya herein kam. Ihr rotes Haar hatte sie zu einem Dutt gebunden. Sie ignorierte mich, während sie sich einen der Äpfel nahm und wieder hinaus wollte, doch ich hielt sie auf. Fragend sah sie zu mir.

"Glaubst du...glaubst du ich sei eine gute Person?", wollte ich wissen. Eine Frage, die sie zu überraschen schien. Sie runzelte die Stirn und ließ den Arm mit dem Apfel in ihrer Hand sinken. "Wieso fragst du das?", fragte sie. Seufzend erklärte ich ihr, dass ich mir Sorgen darüber machte, weshalb ich eine Doppelgängerin habe, die durch und durch böse ist.

"Im Grunde ist sie du, Citiana", antwortete sie dann. "Nur ohne Gefühle. Ich habe sie noch nicht kennengelernt, doch ich glaube, sie ist nicht anders als du." Nun war ich diejenige, die die Stirn runzelte. Natürlich war sie anders. Sie war böse. Als ich das sagte, lachte Freya leicht auf und schüttelte den Kopf.

"Für dich mag sie das sein, aber ich glaube, in ihrer eigenen Geschichte ist sie ein Held", erklärte sie. Niemand würde sich selbst als abgrundtief böse bezeichnen, das ist wahr. Doch eine gute Person war meine Doppelgängerin nicht. "Denk darüber nach, was ihr gemeinsam habt. Sie hat Raziel geopfert, um an uns zu kommen. Du hast Azzurra geopfert, um sie von uns abzulenken." 

Ich hatte Azzurra nicht geopfert. Es war ihre eigene Entscheidung. Sie hätte mit uns mitkommen können. Als ob wir sie zurückgelassen hätten, wenn sie uns gefragt hätte. Erst wollte ich etwas sagen, doch ich hielt inne. Andererseits, haben wir ihr keine Chance gegeben. Wir wollten sofort los. 

Wir hätten sie zwingen und retten können. Alle zusammen wären vermutlich halbwegs mit den Doppelgängern zurecht gekommen. Dann hätte sie nicht sterben müssen. Coras Worte gingen mir wieder durch den Kopf. Man hat immer eine Wahl, Citiana. Und wir hatten entschieden, Azzurra zurückzulassen.

New World: AfterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt