Kapitel 18

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Der nächste Morgen wirkte so erschreckend normal. Seth saß mit uns allen gemeinsam an dem großen Tisch, wo wir frühstückten. Azzurra war vorhin Erkundungen einholen, zusammen mit Kenna und Dave. Raziel sagte nichts. Stattdessen schien er wieder halbwegs er selbst zu sein. Ob das ging? Vielleicht brauchte er ja nur eine Weile, dachte ich. Oder hoffte ich es vielleicht nur?

"Es ist so ruhig ohne die Kinder", meinte Raphael, als so gut wie alle mit dem essen fertig waren. Ich nickte. Daran dachte ich auch ständig. "Und Brooke", fügte ich hinzu. Sie fehlte hier ebenfalls. Doch vielleicht tat es ihr ganz gut, weit weg von all dem zu sein. Auch wenn sie Soldatin war, glaubte ich manchmal, sie sei nicht für den Krieg geschaffen.

"Kenna war vorhin hier", kam es dann nach einer Weile von Cora. Natürlich wusste ich bereits, dass sie hier war. Doch mit ihr gesprochen hatten weder Raphael noch ich. Azzurra wollte uns eigentlich nach dem essen aufklären. Also im Grunde jetzt, weshalb ich zu ihr sah.

Diese nickte und schien zu verstehen, was wir von ihr wollten. "Sie und Dave haben herausgefunden, wo sich das Hauptquartier der anderen befindet", antwortete sie. Das klang gut. Es war ein Vorteil. Raphael sprach genau diesen Gedanken auch laut aus. "Wissen Uriel und Michael bereits davon?", fragte ich dann. 

Erneut nickte Azzurra. Ich seufzte. "Michael mag ich nicht", gab ich zu. "Niemand mag ihn", stimmte Azzurra meiner Aussage zu. Damit lag sie vermutlich falsch. Es gab bestimmt noch einige Engel, die mit ihm zustimmten. Nicht alle mochten Raphaels Politik.

"Ich verstehe ihn", bestätigte Raziel meine Vermutung. Nur hatte ich nicht erwartet, so etwas je von ihm zu hören, denn er hatte Gabriel verachtet. Und Michael teilte zum Großteil dessen Ansichtsweise. Zudem schritt auch bei ihm die Demokratisierung voran. Es entstand eine Diskussion am Tisch. Vor allem Cora und Azzurra beteiligten sich daran.

Raphael sagte nur selten etwas und Seth schien ganz woanders zu sein. Plötzlich sprang er auf und hatte dann alle Augen auf sich gerichtet. Dann sah er zu mir. "Luc", war das einzige, was er sagte, bevor er nach draußen lief. Verwirrt folgte ich ihm. War etwas geschehen? Ich hörte Schritte hinter mir und war mir sicher, dass auch die anderen neugierig geworden sind.

Ohne Schuhe liefen wir in die Kälte, was lebensmüde war. Dachte ich, bis Seth hielt. Vor einem Mädchen mit rot-blondem Haar, welches einen an loderndes Feuer erinnerte. Gerade lag sie jedoch schwer verletzt im Schnee. Sie musste Schmerzen haben. Vor ihr stand der große dämonische Hund und blickte seinen Gebieter - Seth - an. 

Erst wollte ich etwas sagen, doch sofort zog Raphael mich hinter sich und zog sein Schwert, um mich zu beschützen. Auch Azzurra und Raziel taten es ihm gleich. Sie alle richteten sie auf Seth. Seine Tarnung war aufgeflogen, denn alle schienen diesen Hund zu sehen. "Totengott", murmelte Raphael.

Azzurra sah zu mir. Sie erinnerte sich an das Gespräch. Ich hatte sie angelogen und nun wusste sie es. Was im Grunde nicht schlimm war. Doch ihr Blick verriet mir, dass ich es ihr hätte sagen können. Als einzige ließ sie ihr Schwert sinken. Denn im Grunde empfand sie Totengötter nicht als böse. Man müsse eben nur vorsichtig sein.

"Raphael", kam es von Seth, der weder lächelte noch grinste. Stattdessen wirkte er ernst. "Du bist frei", stellte Raphael fest. Nun drängelte ich mich an ihm vorbei und stellte mich vor Seth. "Ich habe ihn rausgelassen. Wir brauchen ihn", verteidigte ich den Totengott, der sich währenddessen zu dem Mädchen hockte.

Das allerdings alarmierte Raziel, der zu ihm gehen wollte. Nur Luc hielt ihn davon ab. Cora schien alles noch verstehen zu wollen, während Raphael mich kopfschüttelnd ansah. "Bitte sag mir, dass du keinen Bund eingegangen bist", sagte er und musterte mich von oben bis unten. "Nein", kam es von Seth und mir gleichzeitig. 

"Wir brauchen ihn", wiederholte ich meine Worte von eben mit etwas Nachdruck. Hoffentlich verstand er das. Doch er hielt sein Schwert weiterhin in Seths Richtung. "Damals stand er auf Seiten der Doppelgänger, Citiana", erklärte er und sah wieder zu dem Totengott. Ich folgte seinen Augen. Tat er das? Ich dachte, er hasste sie. 

Seth stand auf. "Wenn es nach denen geht, tue ich das immer noch. Sie haben mich besucht, kurz bevor du mich rausgelassen hast", sagte er zu mir. Entsetzt sah ich ihn an. Wusste Kenna das? Hatte sie deshalb geschwiegen? "Doch was ich gesagt habe, entspricht der Wahrheit. Ich verachte sie. In den Jahren, die ich dort drinnen saß, hatte ich Zeit, über alles nachzudenken."

Mehrere tausend Jahre saß er in diesem engen kleinen Käfig. Allein mit seinen Gedanken und den Erinnerungen an seinen Taten. Er hatte mir einen Teil seiner Kräfte gegeben. Vorübergehen, wie er betonte. Dann sah ich wieder zu Raphael und legte die Hand an sein Schwert, um es langsam nach unten zu drücken.

"Du musst mir vertrauen", bat ich. "Weder Seth noch Luc sind gefährlich." Jedenfalls war es das, was ich glaubte und hoffte. Seufzend nickte Raphael. Nach kurzem Zögern nahm auch Raziel das Erzengelschwert herunter und Seth beugte sich wieder zu dem Mädchen. "Sie lebt noch", stellte er fest.

"Wir müssen sie hinein bringen." Es war Cora, die ihre Stimme wohl wiedergefunden hatte. Azzurra und Seth trugen sie dann hinein und legten sie auf dem Sofa ab. Sie hatte Verletzungen am ganzen Körper und ich begann mich zu fragen, was ihr passiert ist.

"Das war dieses Vieh", kam es von Raziel, der Luc betrachtete. Dieser blieb unbeeindruckt von diesen Worten neben Seth, welcher ebenfalls auf dem Sofa saß, um sie zu untersuchen. Ob und wie viel Ahnung er von so etwas hatte, war fraglich. 

"Nenn ihn nicht Vieh. Er hat Gefühle." Es klang ganz beiläufig. Während diesen Worten stand er auf und sah auf das Mädchen herab. "Luc greift nicht an, er beschützt. Zwar sieht er...seltsam aus, doch ich verspreche euch, dass er sanfter ist als ein Welpe." Bei diesen Worten sah ich zu dem dämonischen Hund. Ja, seltsam und gruselig sah er aus.

Doch er beachtete kaum jemanden hier. Stattdessen war er fixiert auf das Mädchen. Seinetwegen würde sie überleben. Er hatte Seth geholt. Sie wäre dort draußen erfroren, hätten wir sie nicht in unser Haus gebracht. Nun mussten wir hoffen, dass sie aufwacht.

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