Die Gilde

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Ich hatte einen unruhigen Schlaf. Mehrmals dämmerte ich weg, nur um kurz darauf schweißgebadet aufzuschrecken. Überall war er. Der Rabe. Der Rabe mit dem einen Auge. Das Lachen. Das Auge. Die Maske. Es war wie ein Fiebertraum. Ich wälzte mich herum und krachte aus meinem Bett. Stöhnend rieb ich mir die Schulter. Das würde mit Sicherheit ein blauer Fleck werden. Schlaftrunken stolperte ich ins Bad, dabei fiel mein Blick aus dem Fenster. Die Sonne ging unter. Scheiße. 

Was war passiert? Die...die Bank! Ich musste dahin! Ich musste unbedingt überprüfen, ob ich geträumt hatte. Nachdem ich schnell eine Jogginghose angezogen und im Laufen einen Pulli mitgenommen hatte, joggte ich auch schon zur Ubahn-Station. Ratternd fuhr der Zug an, und nach dem Umsteigen war ich auch schon da. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit einem so beklommenen Gefühl die Treppen der Station hinaufzulaufen. Und dann konnte ich es sehen. Das Gelände der Bank war abgesperrt, mehrere Streifenwagen standen um den Gebäudekomplex herum. Die Spurensicherung wuselte mit ihren weißen Anzügen durch die Bank.

Ich sprach einen Mann an, der zusammen mit seinem Sohn das Geschehen beobachtete. "Was ist denn hier passiert?" "Ein Mann wurde da heute morgen tot aufgefunden. Wurde aufgeschlitzt." Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht zusammenzuzucken. Es war Realität! Alles! Langsam entfernte ich mich von dem Geschehen, mein Herz fing an, heftig zu pumpen. Alles Wahr. Kein Traum. Keine Einbildung. Ich umquerte einen Häuserblock und fing an zu laufen. Einfach nur weg. Weg von diesem Ort. Immer schneller. 

-oooooo-

Ich weiß nicht, wie lange ich gelaufen war. Nur, dass es sehr lange gewesen sein musste. Und ich keinen Plan hatte, wo ich war. Eine Wohnsiedlung. Viele gleich aussehende Reihenhäuser. Mülltonnen, die an den Straßen standen. Die meisten Häuser waren beleuchtet, Kinder wurden ins Bett gebracht, Paare hockten vor den Fernsehern. Wo war ich? Das Doofe an Wohnsiedlungen war, dass diese so furchtbar anonym und nichtssagend aussahen, sodass ich ungefähr überall sein konnte. Kein Alleinstellungsmerkmal. Und das Smartphone zu Hause vergessen. 

Jetzt, da ich einige Minuten Pause gemacht hatte, spürte ich ein seltsames Ziehen in meiner Brust. Die Narbe auf meiner Brust war rot angeschwollen. Und wenn ich mich drehte, zog sie mal mehr und mal weniger. Da ich wollte, dass das ziehen aufhörte, dreht ich mich nach Nordwesten. Hatte das etwas mit dem Wetter zu tun? Narben konnten ja angeblich schlechtes Wetter vorraussagen. Aber am Nachthimmel konnte ich keine Wolken erkennen. Mir war kalt, daher entschloss ich, mich in Bewegung zu setzen. Immer nach Nordwesten. Ansonsten brannte es wieder, und zwar stärker als zuvor. Irgendwann wurde mir bewusst, wie skurril mein Vorgehen war. Ich folgte dem Ziehen einer verkackten Narbe. Doch, durch die Schmerzen veranlasst, schob ich den Gedanken beiseite. 

Und die Umgebung veränderte sich. Das Wohngebiet wurde zur Altstadt. Wohnhäuser wechselten sich jetzt mit Geschäften, Imbissbuden und Bars ab. Und vor einer Bar kam ich schließlich zum stehen. Mein Weg nach Nordwesten wurde durch ein mehrstöckiges, altes Fachwerkhaus versperrt.  Die untere Etage schien eine stilvoll eingerichtete Bar zu beherbergen, die obere war von hier aus nicht einsehbar. Da mir spontan nichts besseres einfiel betrat ich das Gebäude. Und der Schmez hörte auf. Lediglich ein leichtes Pochen blieb zurück.

Und mir fiel auf, wie müde ich war. Und hungrig. Ich ließ mich an einen der zahlreichen Tische fallen und widmete mich dem Beobachten meiner Umgebung. Der Raum war durch Balken, die die obere Etage stützten, in drei Teile eingeteilt worden. Einer wurde von einem gewaltigen Tresen dominiert, dahinter stand ein geschäftig dreinblickender Barmann, der sich voll und ganz dem Abtrocknen von Biergläsern verschrieben hatte. Hinter diesem wiederum konnte ich eine Eidrucksvolle Ansammlung an Flaschen von verschiedensten Getränken erkennen. Über dem Tresen hing ein rundes Schild mit einem stilisierten Raben und dem Schriftzug "Ravens" darauf, was dazu führte, dass ich wieder an den Raben denken musste, der mich anscheinend heute morgen abgestochen hatte. Und ich merkte, wie unglaublich absurd die ganze Situation war. Daher konzentrierte ich mich wieder auf das Interior: In den beiden anderen Teilen des Raumes standen Esstische, an den Wänden hingen seltsame, vermutlich uralte Gerätschaften und eine Wendeltreppe führte in des zweite Stockwerk.

"Darf es schon etwas zu Trinken sein? Ich bringe ihnen gleich die Speisekarte." Etwas überrumpelt meinte ich nur: "Ähh... Ein Minealwasser bitte..."  Die Kellnerin entfernte sich und ein stämmiger Mann mit langen, dunklen Haaren, der eine dunkle Lederjacke trug, nahm mir gegenüber Platz. Nachdem er mich eine Weile gemustert hatte, fragte er: "Was verschlägt einen Fremden wie dich um diese Uhrzeit hierher?" "Lange Geschichte." "Ich hab Zeit. Und genug Geld für zwei Bier." Aus irgendeinem Grund hatte ich in diesem Moment beschlossen, ihm alles zu erzählen. Einfach, weil es mir dadurch hoffentlich besser gehen würde. Und ich diesen Typen wahrscheinlich nach diesem Gespräch nie wiedersehen würde. Es wäre also egal, wenn er mich danach für verrückt hielte.  Während ich ihm meine Geschichte erzählte, saß er die ganze Zeit aufmerksam bei mir. Er nickte nicht. Er lachte nicht. Er hörte einfach nur zu. Und trank nebenbei sein Bier aus. 

Dadurch hatte ich auf einmal ein ganz anderes Bild von dem langhaarigen Fremden in Lederkutte mit dem aufmerksamen Blick und seinem verschmitzten Gesichtsausdruck. Und ich hatte das Gefühl, dass er mich wehmütig ansah. Als hätte er schon viel in seinem Leben gesehen. Aber alt war er nicht. Höchstens 30, eher jünger.

Irgendwann stand er auf. "Komm mit! Ich will dir was zeigen."  Ich wusste nicht so richtig, wie ich reagieren sollte, deshalb stand ich auf und folgte ihm. Der Fremde sprach den Barkeeper an und murmelte etwas unverständliches. Ich folgte ihm über die Wendeltreppe ins obere Geschoss, in einen einen langen Flur. Von diesem gingen mehrere Zimmer ab, Hotelzimmer, wie ich vermutete. Vor dem letzten blieb er stehen und fuhr mit der Hand über den Türrahmen. Mit einem Klacken sprang die Tür auf. Dahinter befand sich, ganz entgegen meiner Erwartung, ein relativ großer Raum, den wir durch eine Galerie betraten. Unten befand sich ein weiterer Tresen, um den sich mehrere Leute versammelt hatten. Der Fremde drehte sich um: "Ich bin übrigens Ruben! Willkommen bei den Raben!"



Der Gefallene - WiedergeburtWhere stories live. Discover now