Gedankensplitter - lebende Kunst

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Es ist ein lauer Frühlingstag in Paris. Draußen zwitschern die Stare und die Tauben fliegen glücklich umher,  während drinnen noch immer die Heizungen aufgedreht werden. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und starre das große Museum vor mir an. Seit seiner Eröffnung wollte ich es mir bereits ansehen, dazu gekommen bin ich jedoch nie, obwohl ich schon seit vielen Jahren in dieser Stadt lebe. Doch meine unzähligen Reisen, die ich nicht immer ganz freiwillig unternehmen wollte, und die Vielzahl an Jobs, die ich auch nicht immer ganz freiwillig ausgeübt habe, hielten mich bisher immer von diesem Museum fern.
Eine Schulklasse läuft lärmend in das alte Gebäude und ich starre ihnen hinterher. So unbedarft und jung bin ich auch einmal gewesen. Dann kam jedoch die Zeit und hat das Rad immer weiter und weiter gedreht, hat es sogar überdreht und irgendwann zwischen den Zeiten habe ich diese Unbedarftheit verloren.
Drinnen muss ich mich in einer schier endlos langen Schlange gedulden bis ich endlich lieblos das Stückchen Papier in die Hand gedrückt bekomme, das mich dazu befähigt die Kunst zu bestaunen. Gespannte mache ich mich auf die Suche nach Spuren des Vergangenem, auf die Suche nach den Künstlern vergangener Zeiten. Stunde um Stunde irre ich durch die Gänge, nehme mir Zeit und studiere jedes Gemälde, jede Skulptur und manchmal auch die Wachleute, die wie angewurzelt auf ihrem Platz stehen. Als ich in den nächsten Raum gehe, erstarre ich. Von weitem erblicke ich ein Gemälde, das mir nur allzu bekannt ist. Je näher ich dem Ölschinken komme, der mittlerweile hinter dickem Glas  hängt, desto sicherer bin ich mir - ich kenne es! Wie hypnotisiert starre ich auf die feinen Pinselstriche und merke gar nicht, wie die Leute um mich herum zu tuscheln beginnen. Erst als eine Frau sich neben mich stellt und die Ähnlichkeit zwischen mir und dem gemalten Mann feststellt, reiße ich meinen Blick von dem Kunstwerk. „Es muss merkwürdig sein jemanden auf so einem alten Bild zu sehen der aussieht wie man selbst." sagt die Frau und lässt ihre Augen über meinen Körper wandern, als sei ich ein Ausstellungsstück. „Ich finde die gute Dame hat mich doch ganz gut getroffen, auch wenn ich heute natürlich nicht mehr ganz so jung aussehe." antworte ich verschmitzt grinsend. Die Frau lacht und lässt ihren Blick wieder auf das Gemälde schweifen. „Vielleicht war das ja ihr Ur-ur-ur-ur-ur-ur-Großvater", mutmaßt sie ebenso grinsend, „Wobei ich Sie ja noch ein wenig ansehnlicher finde so in Jeans und ohne diesen lächerlichen Rock samit Strumpfhose."
„Tappert und Beinlinge." korrigiere ich ohne darüber nachzudenken. Stirnrunzelnd sieht sie mich an. Ich schüttele mit dem Kopf und mache eine wegwerfende Handbewegung. Bis heute sind mir Tappert und dessen Nachfolger, sowie die Beinlinge immer noch die liebsten aller Kleidungsstücke. In den heutigen Hosen fühle ich mich immer so nackt, weshalb ich auch selten ein Oberteil trage das nicht bis über meinen Intimbereich reicht. Gedanklich drifte ich ab, zurück zu den Zeiten in denen dieses Gemälde gefertigt wurde. Achteinhalb Stunden musste ich Modell stehen, ohne Unterbrechung. Dafür war das Gehalt nicht schlecht, immer noch weniger als der heutige Mindestlohne, für damalige Verhältnisse jedoch ausgesprochen hoch.
„Durch so ein Gemälde ist die porträtierte Person unsterblich." reißt mich die Frau neben mir wieder aus meinen Gedanken in die Gegenwart, die so schmerzlich meine Gedanken trübt. „Nichts was unbedingt wünschenswert ist." erwidere ich missmutig. Fragend hebt sie die Brauen, doch eine Antwort werde ich ihr nicht geben können. Jemand der in dreißig, vielleicht auch erst in vierzig Jahren sterben darf, wird nie begreifen, was für eine Last es ist unsterblich zu sein. Ich habe aufgehört die Jahre die ich alt bin zu zählen. Es macht keinen Sinn wenn ich nur mir selbst davon berichten kann, wieder und wieder, Nacht für Nacht. Zu Vergessen, ein weiteres Privileg des Alterns, ist mir zwar nicht möglich, aber dafür kann ich verdrängen was war und was auch in hundert oder gar tausend Jahren noch sein wird. Kein Krieg, keine Krankheit, kein Gift und schon gar keine Waffe können mich an den einzigen Ort befördern an dem ich mir wünsche zu sein.  „Da haben Sie vermutlich recht." lacht die Frau überraschender Weise. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich wieder das Gefühl ein wenig Verständnis zu erfahren. „Dieses Gemälde ist zwar interessant, aber ich finde lebende Personen spannender." gebe ich zu und warte ihre Reaktion ab. Sie schenkt mir ein breites Lächeln und entgegnet frech: „Da werden Sie in diesem Museum aber wenige finden." Ich wende mich jetzt komplett von dem Gemälde ab. „Ich sehe da aber gerade eine ziemlich malerische Dame, die, korrigieren Sie mich falls ich falsch liege, absolut quicklebendig  vor mir steht." Ihre Wangen erröten und die Frage ob ich sie auf einen Kaffee einladen dürfte, verzaubert sie in ein strahlendes Honigkuchenpferd. „Sie müssen mir alles über sich erzählen!" verlangt sie auch noch, nachdem sie sich gefangen hat und nicht mehr wie ein Kind an seinem Geburstag strahlt. Ich nicke mit ernster Miene und lüge: „Natürlich." Dabei weiß ich, dass ich in einiger Zeit die Reißleine ziehen muss. Ich werde aus ihrem Leben verschwinden, vielleicht mal wieder gezwungen sein ins Ausland zu reisen und dann eine neue Wohnung finden müssen, damit all meine Spuren verwischt werden. Ich handele nicht uneigennützig. Natürlich wäre es ein Schock für sie die Wahrheit herauszufinden, aber das haben schon andere vor ihr verdaut. Freunde und auch Geliebte. Doch egal wie sehr sie es verkraften konnten, ich konnte es nie. Denn sie werden unweigerlich sterben und ich nicht. Nebeneinander laufen wir zum Ausgang des Museums während ich ihr eine Lüge nach der nächsten auftische, weil ich weiß, dass die Wahrheit nur ein weiteres Loch in mein Herz reißen würde. Ich blicke ein letztes Mal zurück, sehe in der Entfernung den Eingang zu dem Seitenraum in dem der Ölschinken hängt auf dem man mich porträtiert hat und seufze. Irgendwann wird dieses Gemälde hier verschwinden oder zerstört, während ich noch immer da sein werde.

GedankenflugWhere stories live. Discover now