Gedankensplitter - Gerichtshof der Gesellschaft

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Es war ein verregneter Tag an dem eine Frau vor Gericht gestellt wurde. Sie war nicht die Erste und würde sicher auch nicht die Letzte sein die für diese Tat angeklagt wurde.
„Hatun She* ist nach eingehender Prüfung des Tatbestands von der Staatsanwaltschaft angeklagt sich der Hurerei, der Verführung und der Verletzung der Sittlichkeit in mehr als zehn bekannten Fällen schuldig gemacht zu haben." begann der Richter und warf einen kurzen Blick auf die Angeklagte. Sie war nicht besonders jung, auch nicht besonders alt, nicht besonders schön, nicht besonders hässlich. Sie hätte jede beliebige Frau sein können. Der Unterschied zu anderen Frauen bestand jedoch darin, dass sie sich ihrer Sexualität bewusst war. Auch im Gerichtsaal war sie in knapper Kleidung erschienen. Allein dies war ein Skandal, aber sie hielt nicht besonders viel von gesellschaftlichen Normen, die sie in ihrem Dasein einschrenkten. Sie sah es als ihr Menschenrecht sich zu kleiden wie sie wollte, zu tanzen wie sie wollte und Sex zu haben wie und mit wem sie wollte. Aber sie war eine Frau. Und Frauen hatten nicht das Recht sich freizügig zu kleiden, es sei denn sie waren Prostituierte. Und Frauen hatten nicht das Recht, sich zu prüde zu kleiden, sie mussten doch immerhin noch gefallen. Und Frauen hatten nicht das Recht sich so zu bewegen, es sei denn sie waren Prostituierte. Und Frauen hatten nicht das Recht sich so ungelenkig zu bewegen, sie mussten doch immerhin noch gefallen. Vorallem aber hatten Frauen nicht das Recht Sex zu wollen, es sei denn sie waren Prostituierte. Vorallem aber hatten Frauen nicht das Recht Sex auszuschlagen, sie mussten doch immerhin noch gefallen.
Die Anwältin der Angeklagten sah ausdruckslos zum Richter, während dieser sprach. Dann warf sie ihren Blick auf den Staatsanwalt, der ihr vor der Verhandlung ins Ohr geflüstert hatte: „Wieso versuchen Sie immer solche Frauenfälle zu gewinnen, die nicht zu gewinnen sind?" Sie hatte nicht geantwortet. Sie wusste selbst nicht warum sie es nicht wie alle anderen tat. Vielleicht weil sie selbst nicht ganz die weiße Weste hatte von der man ausging, dass sie sie zu haben hatte.
„Wie bekennt sich die Mandantin?" fragte der Richter.
„Für nicht schuldig." bekannte sich die Anwältin im Namen der angeklagten Frau.
Dann begann der Prozess. Es wurden Zeugen befragt, hauptsächlich männliche Mitbürger die die Angeklagte identifizieren sollten. Ein paar wenige Frauen sagten ebenfalls aus und in keinem Fall waren es Aussagen, die für die Angeklagte sprachen. Frauen schossen gegen Frauen, anstatt gemeinsam zu kämpfen. Warum sie das taten, war wohl wieder in der Angst zu finden, in der Angst vor gesellschaftlicher Ächtung. Als dann die Angeklagt zur Befragung aufgerufen wurde, nahm sie zuerst der Staatsanwalt in die Mangel: „Wann hatten Sie das erste Mal Geschlechtsverkehr?" Die Angeklagte überlegte nicht lange, antwortete mit klarer Stimme: „Mit Sechzehn." Der Staatsanwalt wusste welche Fragen er zu stellen hatte: „Und mit wem?"
„Einspruch! Relevanz." meldete sich die Verteidigerin zu Wort. Der Richter jedoch, ein erbarmungsloser Mann, der schon so manchen Fall härter bewertet hatte als unbedingt nötig sprach: „Nicht statt gegeben, beantworten Sie die Frage." Zögerlich erklärte die Angeklagte: „Mit einem Jungen aus der Schule." Ihre Stimme wurde allmählich leiser. Sie konnte nicht verstehen, was ihr erstes Mal mit dem Fall zu tun zu hatte. Es lag schon viele Jahre zurück und niemand konnte ihrem sechzehnjährigen Ich noch Vorwürfe machen. „Sie sagen nicht mit ihrem Freund, Sie sagen mit einem Jungen aus der Schule." stellte der Staatsanwalt fest und warf einen kurzen Blick zur Jury. Sofort schaltete sich die Anwältin ein: „Wo ist da die Frage?" Der Staatsanwalt lachte kurz. Er klang gehässig als er sagte: „Lassen Sie es mich anders formulieren. Waren Sie mit diesem Jungen in einer Beziehung?" Die Angeklagte schüttelte mit dem Kopf. „Sie führten also folglich keine feste Beziehung mit ihrem ersten Sexualpartner." stellte der Staatsanwalt ernüchtert fest. „Nein." Er hob verwundert die Augenbrauen, so als sei ihm diese Frau ein Rätsel, das es zu lösen galt. Es war eine Show der Verwunderung und Empörung, die er abzog um die Jury für sich zu gewinnen. „Erhofften Sie sich eine Beziehung?" wollte er wissen. Sie wartete einen Augenblick ehe sie antwortete. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und losgerannt, dorthin wo sie niemand mehr kannte. Selbst wenn sie nicht verurteilt würde, so hätte sie dennoch auf ewig einen Stempel aufgedrückt. „Ich weiß es nicht mehr genau, sicher auch, aber ich war nicht besessen davon. In erster Linie ging es um Spaß." erklärte sie sich. „Gab es in der Reihe ihrer Geschlechtspartner denn welche mit denen Sie eine Beziehung anstrebten oder hatten?" „Ja, ein paar. Nicht allzu viele, zu einer Beziehung gehört schließlich mehr als Körperlichkeiten." versuchte sie allen begreiflich zu machen. Die Verzweiflung in ihrer Stimme wurde von den Meisten jedoch nur als Indiz der Schuld ausgelegt. „Aber eben diese Körperlichkeiten können für Sie auch außerhalb einer Beziehung stattfinden?" fragte der Staatsanwalt als nächstes. Die Sachlichkeit war längst aus seiner Stimme verschwunden. „Ja."
Auch der Richter zog die Augenbrauen hoch, so als sei er der Meinung bereits jetzt genug gehört zu haben. Sie fragte sich inwiefern sie sich von anderen Frauen, die dieser Verbrechen angeklagt worden waren, unterschied. „Mit wie vielen Männern oder auch Frauen, hatten Sie bereits sexuellen Kontakt?" fragte der Staatanwalt. Die Frau stellte eine überraschende Gegenfrage: „Äh, wie definieren Sie das?" Verächtlich erklärte er: „Alles was über ein simples Küsschen auf die Wange hinaus geht." Sie biss sich unruhig auf die Lippe. Sie wollte nicht lügen. Sie fühlte sich nicht schuldig und dennoch war sie genau das in den Augen des Gerichtshofes. „Dann, also ich weiß es nicht, ich führe ja keine Liste, aber vielleicht zwanzig." Der Staatsanwalt grinste zufrieden: „Keine weiteren Fragen."
Die Verteidigerin erhob sich und versuchte ihrer Mandantin aufmunternd zuzulächeln. Jedoch wirkte ihr Lächeln eher kläglich und hoffnungslos als aufbauend. „Sie sagten sie hätten mit ungefähr zwanzig Männern sexuellen Kontakt gehabt. Kannten Sie diese Männer gut?" fragte die Anwältin. Die Frau verstand nicht inwiefern sich diese Frage von denen des Staatsanwalts unterschied und glaubte schon fast auch jetzt, von ihrer eigenen Anwältin, als schuldig dargestellt zu werden. „Mal mehr mal weniger." Die Anwältin nickte: „Also können Sie doch sicher auch sagen, ob manche ebenso viele Sexualpartner oder Partnerinnen hatten." Sofort nickte die Angeklagte: „Ja. Für die Meisten ist es ganz normal jedes Wochenende eine Andere mit Nachhause zu nehmen." Sie verstand jetzt und hoffte, dass auch die Geschworenen verstehen würden. „Haben Sie immer mit offenen Karten gespielt und klar gemacht, dass Sie keine Beziehung wollen, wenn dies der Fall war?" fragte die Anwältin. „Ja." „Und die Männer mit denen Sie-" bevor die Anwältin diese Frage aussprechen konnte, unterbrach die Mandantin sie bitter: „Nein, nicht ein einziger." Es war dieser eine Satz der die Macht hatte, die Machtverhältnisse zu verdeutlichen, das Unrecht darzustellen und die Menschen, allen voran die Geschworene, zu überzeugen dass Frauen fälschlicherweise verurteilt wurden, eben nur weil sie Frauen waren. "Sie waren also so vernünftig über ihr Vorhaben und Verhalten aufzuklären, die Männer jedoch nicht, obwohl diese genauso vorgingen wie Sie?" vergewisserte sich die Anwältin noch einmal. „Ja." Die Anwältin wendete sich mit einem Nicken ab: „Keine weiteren Fragen."

*Namenserklärung
Hatun - türkisch; Die Frau
She - englisch; sie (Pronomen)

GedankenflugWhere stories live. Discover now