"Du schuldest mir etwas"

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Das gleichmäßige Piepsen der Überwachungsmonitore unterbrach in regelmäßigen Abständen die Stille. John saß neben dem Bett seines Sohnes und verlor immer mehr die Hoffnung. Es war wie ein Dejavu. Vor einigen Jahren war es seine Frau gewesen, die in einem Krankenhausbett lag, dass sie nie wieder verlassen hatte. Und Stiles würde es auch nicht tun. Die Untersuchungen zeigten, dass es auch für ihn keine Chance mehr gab. John würde ihn verlieren, wie seine Frau Claudia vor vielen Jahren. Stiles würde dasselbe Schicksal ereilen wie seine Mutter und John konnte nichts anderes tun, als dabei zuzusehen und ihn nicht allein zu lassen.
Aber er war nicht gewillt, es so einfach geschehen zu lassen. Vielleicht konnten die Ärzte nicht mehr helfen. Vielleicht gab es keine medizinische Lösung, aber es gab eine. Einen letzten Ausweg, den John sich aufgespart hatte, für den Moment wo es wirklich keine Hilfe mehr gab.
Er blieb bei seinem Sohn, bis die Nachtschwester kam und ihn nach Hause schickte. Doch ohne Stiles war es kein Zuhause.
Gleich am nächsten Morgen, machte er sich auf den Weg ins Reservat. Eine alte Villa stand dort. Das Anwesen der Hales. Es war eine halbe Ruine. Jäger hatten das Haus damals angezündet und nur einer hatte überlebt. Derek. Damals war er 16 Jahre alt gewesen. Er hatte John leid getan, deshalb konnte er es ihm auch nicht abschlagen, als Derek ihn bat, ihn nicht dem Jugendamt auszuliefern. Er wollte allein zurecht kommen. John wusste, dass er, als Werwolf, durchaus dazu in der Lage war, doch er behielt ihm in Auge. Schließlich war er immer noch ein 16jähriger Teenager, der seine Eltern verloren hatte. Bald darauf hatte er Beacon Hills verlassen und war nun, seit zwei Monaten, zurück. Er hatte begonnen, das Anwesen wieder aufzubauen und John war beeindruckt, wie weit er gekommen war.
John hatte Derek damals einen Gefallen getan, nun war es an der Zeit, dass er sich revanchierte.
»Derek?«, rief er laut nach ihm. Der Werwolf hatte ihn sicher längst bemerkt. Trotzdem dauerte es lange, bis er endlich die Tür öffnete.

Es war die Verzweiflung, welche der Sheriff ausströmte, die Derek zögern ließ. Er wusste er schuldete ihm etwas und es war nicht schwer zu erraten, dass der Sheriff es nun einfordern würde. Am Ende hatte Dereks Neugier gesiegt. Wobei sollte er ihm helfen können?
Er öffnete die Tür und sah in das verzweifelte Gesicht eines gestandenen Mannes. Er sah erschöpft und übernächtigt aus. Irgendwas schien ihm wirkliche Sorgen zu bereiten.
Der Mann vor ihm straffte die Schultern, holte tief Luft und kam auf ihn zu.
»Derek«, sagte er nochmal.
Der Werwolf nickte ihm zu. »Was soll ich für dich tun?«, fragte er. Sie brauchten nicht lange drum herum reden. Das hier war kein Anstandsbesuch.
»Ich will den Biss.«
Dereks Augen weiteten sich überrascht. »Du willst was?«, fragte er ungläubig. Der Sheriff hatte nie den Anschein erweckt, einer von ihnen sein zu wollen.
»Nicht für mich... für Stiles«, erklärte der Ältere leise. »Für meinen Sohn.«
Dereks sah von Sekunde zu Sekunde ungläubiger aus. Wie konnte ein Vater das für sein Kind wollen?
»Er ist krank Derek«, erklärte der Sheriff weiter. Das Flehen in seiner Stimme war kaum zu ignorieren. Trotzdem schüttelte Derek den Kopf. »Das kann ich nicht tun.«
»Warum?«
»Ich verwandle keine Teenager«, sagte Derek. »Sie haben keine Selbstkontrolle.«
Er wusste wie gefährlich es war und eigentlich wusste John es auch. Ein junger Werwolf hatte damals die Aufmerksamkeit der Jäger auf sich gezogen, sich zu den Hales geflüchtet und so ein riesiges Unglück heraufbeschworen. Noch immer machte sich ein schwerer Kloß in seinem Hals breit, wenn Derek daran dachte. Seine Familie hatte Beacon Hills stets vor dem Übernatürlichen geschützt, aber sie hatten auch jungen Werwölfen dabei geholfen, sich zu kontrollieren. Wenn nötig durften sie bleiben. Zumindest früher, nun war Derek allein und half niemanden. Es fragte auch niemand mehr nach Hilfe.
»Er ist krank Derek... Er hat vielleicht noch ein paar Wochen zu leben.«, sprach der Sheriff verzweifelt. »Du schuldest mir etwas.«
Derek schluckte. Ihm war nicht wohl bei der Sache.
»Ein Biss bedeutet nicht, dass er sich auch verwandelt. Er könnte genauso gut sterben«, versuchte der Werwolf John von seinem Plan abzubringen.
»Das wird er so oder so«, hielt der Sheriff dagegen. »Du weißt was es heißt seine Familie zu verlieren. Ich will nicht auch noch meinen Jungen verlieren«
Derek erinnerte sich, dass John bereits seine Frau verloren hatte. Wenn sein Sohn sterben würde, wäre er genauso einsam, wie er selbst. Der Werwolf musterte ihn ausgiebig. »Und du bist dir sicher?«, fragte er. »Er wird nicht mehr der sein, der er früher war. Er ist dann kein Mensch mehr, sondern ein Werwolf.« Derek betonte seine letzten Worte extra deutlich.
John nickte zögernd. Er wusste nicht, ob dies nun in Stiles Sinne war, aber er konnte ihn nicht verlieren. Es gab keine andere Chance.
»Dann werden wir es heute Nacht tun«, sagte Derek. »In seinem Zustand sollte er nicht zu lange auf den Vollmond warten... und morgen ist Vollmond.« Er wusste zwar nicht, in welchem Zustand Stiles genau war. Aber wenn der Sheriff dies als letzten Ausweg sah, konnte er nur kurz vor dem Tod stehen und das bedeutete vor allem eins: Er war schwach. Derek würde aufpassen müssen, dass er nicht zu tief biss, denn dann würde Stiles verbluten bevor es sich entschied, ob der Biss ihn nun töten oder retten würde.

Mitten in der Nacht schlich Derek mit dem Sheriff ins Krankenhaus. Die Gänge waren menschenleer und die Nachtschwester schien ihre Runde zu drehen. Derek machte sie ein ganzes Stück weiter hinten in einem der Zimmer aus. Er winkte John durch, der auf ein Zimmer rechts von ihnen deutete und Derek öffnete leise die Tür. Langsam trat er ans Bett und sah in das blasse Gesicht eines jungen Mannes, der vor wenigen Wochen noch wohl auf war. Derek hatte ihn öfter in den Wäldern gesehen. Überall im Raum roch es nach Tod. Der Sheriff ahnte vermutlich nicht mal, wie kurz Stiles davor war zu sterben. Er atmete tief ein und setzte sich auf Bett. Der Körper des Jüngeren strahlte eine unangenehme Kälte aus. Ein weiteres Indiz, dass er kaum mehr Kraft hatte. Hatte er überhaupt noch genügend Kraft für den Biss? Wenn er morgen sterben würde, dann wäre Derek der Grund und nicht die Krankheit. Aber dann hätte er sein Leiden nur verkürzt.
Angespannt griff Derek nach dem Arm des Jüngeren. Wenn es funktioniere, dann würde er verantwortlich für ihn sein, auch wenn John sagte, dass er die ganze Verantwortung übernehmen würde. Stiles wäre sein Beta.
Er zog den Arm näher an sein Gesicht.
»Warte«, zischte der Sheriff. Kurz hatte Derek sie Hoffnung, dass er es sich anders überlegt hatte. »Wenn du ihn dort beißt, wird es auffallen. Du musst eine Stelle nehmen, die sie nicht sofort sehen.«
Derek hob die Augenbrauen an, stimmte aber innerlich zu. Er ließ den Arm wieder sinken und sah an Stiles herab. Der Brustkorb hob sich nur ganz sachte an. Die Atemzüge klangen zittrig. Dann riss ein lautes Scheppern ihn aus seinen Gedanken. »Sie kommt zurück«, sagte Derek erschrocken. Sein Blick glitt zur Tür und John verstand sofort. Er öffnete sie und huschte hinaus. Keine Sekunde später hörte Derek, wie die Nachtschwester ihn mit Vorwürfen überhäufte, dass sein Sohn die Ruhe dringend nötig hatte. Zusammen entfernten sie sich von der Tür und alles um Derek herum wurde still. Das monotone Piepsen wirkte fast schon beruhigend auf ihn.
Vorsichtig schob er die Bettdecke weg und das Tshirt hoch. Knapp über dem Beckenknochen biss er zu. Stiles Herzschlag erhöhte sich für wenige Sekunden, aber er wachte nicht auf. Derek strich vorsichtig über die Stelle, wo ein deutlicher Abdruck seiner Fangzähne war und wischte das Blut weg. Jetzt hieß es abwarten. Für John hoffte er, das alles gut ausgehen würde, aber ein Teenager in dieser Verfassung hatte wahrlich schlechte Chancen.
Er überließ Stiles seinem Schicksal und verließ das Krankenhaus genauso unbemerkt, wie er es betreten hatte.

Reborn - Mit dieser Entscheidung musst du lebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt