Kapitel 10 - Trip

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Sofort saß ich kerzengrade auf der Matratze und ich schluchzte unkontrollierbar. Ich wollte niemanden aufwecken, weswegen ich versuchte, mich zusammenzureißen. Mit leicht zittrigen Beinen schnappte ich mir meine Tasche und zog mir Jacke sowie Schuhe an.

Die kalte Nachtluft vermischte sich mit dem Rauch meiner Zigarette, als ich unser Quartier verließ. Mir fiel auf, dass meine kurze und sehr dünne Hose, die ich oft zum Schlafen trug, nicht besonders geeignet für die niedrigen Temperaturen war.

Ich lief durch den angrenzenden Park hin zu einem alten, verlassenen Gebäude und erkannte schon von weitem eine Silhouette. Vermutlich gehörte sie zu einem der vielen Dealer, die vor allem Nachts in dieser Gegend herumschwirrten.

„Was willst du, Kleine?", sprach er mich sofort an, als ich ihm näher kam.

„Ketamin."

Wortlos überreichte er mir ein kleines Tütchen mit dem weißen Pulver und ich ihm das Geld.

Ziellos lief ich durch die Straßen unseres Viertels, einfach weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen, bis mich plötzlich das warme, einladende Licht eines Fast-Food-Ladens anzog als wäre ich eine Motte. Ich kaufte mir nur etwas zu trinken und setzte mich an einen Tisch. Obwohl gerade erst der frühe Morgen angebrochen war, war ich nicht der einzige Besucher – New York City war eben die Stadt, die niemals schläft.

Nach einer halben Stunde, in der ich nur sinnlos rumsaß, ging ich zu den Toiletten. Sie waren glücklicherweise halbwegs sauber, auch wenn es mich in diesem Moment wahrscheinlich nicht gestört hätte, wenn sie es nicht wären.

Als ich mir sicher war, dass ich hier alleine war, legte ich neben den Waschbecken eine Line des Ketamins.


Wieso nahm ich eigentlich diesen Scheiß? Schließlich löste es meine Probleme auch nicht....

Für einen kleinen Zeitraum ging es mir vielleicht besser, aber auf Dauer zerstörte ich mich selbst damit.

Ich schüttelte diese Gedanken ab und zog die Line durch meine Nase, bevor ich erwischt wurde.

Langsam aber sicher spürte ich die ersten Wirkungen. Meine Umgebung veränderte sich leicht und es fühlte sich an, als wäre mein Körper nicht mehr mein Körper. Ich spürte nichts und das war genau das, was ich wollte.

Eine halbe Stunde später war ich wieder in der Lagerhalle und der Rest war überraschenderweise schon weg – außer Dave .

„Wo warst du?", fragte Dave verwirrt.


Etwas undeutlich sagte ich: „Weg." Ich wollte definitiv nicht reden, sondern mich einfach nur noch hinsetzen.

„Ist alles okay mit dir?" Er schaute besorgt zu mir und ließ sich neben mich aufs Sofa fallen.

Ich nickte nur. Mir erschien diese Konversation nicht wirklich, sondern als wäre es eher eine Art Film.

Die anderen der Gang hatten mich definitiv schonmal in diesem Zustand erlebt, aber sie hatten nicht gewusst, weswegen ich mich so komisch verhielt. Ich hoffte, dass auch Dave nicht dahinter kommen würde.

„Du bist doch voll drauf. Lass mich raten DMT oder Ketamin?" Dave runzelte die Stirn. Anscheinend war er nicht so naiv wie die anderen.

Ich antwortete nicht, einfach weil ich keine Lust hatte.

„Also ja. Wissen die anderen davon?" Mein Gegenüber schien gar nicht glücklich, aber es interessierte mich nicht im geringsten.

Als Antwort schüttelte ich nur den Kopf. „Kannst du mich nicht bitte in Ruhe lassen, mir ist schlecht?"

Dave war plötzlich auf 180 und sprang vom Sofa auf. „Wow, Rick wird es bestimmt super finden, dass seinekleine Schwester Ketamin oder ähnliches nimmt. Warum nimmst du diese Scheiße überhaupt? Du hast es sicher leichter als viele andere, die nicht so abrutschen."

„Du weißt doch gar nichts über mich, mein Leben oder meine Vergangenheit." Langsam aber sicher wurde ich wieder fähiger zu reden und der Rausch begann abzuklingen. Ich stürmte mit meiner Tasche aus der Lagerhalle und setzte mich in mein Auto. Viel zu schnell fuhr ich ziellos umher – obwohl ganz ziellos war es nicht: Ohne darüber nachgedacht zu haben, hatte ich das Auto zu einem Friedhof navigiert, wo ich auch stehen blieb.

Es war nicht irgendein Friedhof, sondern der, auf dem Isabella begraben war.

Ich war bis jetzt erst einmal hier, nämlich an ihrer Beerdigung. Danach hatte ich nie den Mut oder die Kraft aufbringen können, hier herzukommen.

Mit zittrigen Knien begab ich mich zu ihrem Grab. Auch wenn ich bei ihrer Beerdigung geistig so gut wie komplett abwesend war, wusste ich genau, wo ich hinmusste.

Und nun stand ich dort:

Isabella Black

geboren am 30.11.2007 gestorben am 4.5.2014

Ein Engel kehrt heim.

Meine Beine gaben nach und ich fiel schluchzend auf den Kiesweg. Alles war meine Schuld.

Irgendwann fing ich einfach an zu erzählen, um alles loszuwerden.

Nach drei Stunden machte ich mich auf den Weg, immer noch mit Tränen in den Augen. Es war zwar befreiend, endlich zum Grab meiner Schwester gegangen zu sein, jedoch machte es das nicht weniger emotional.

Als ich wieder an der Lagerhalle angekommen war, wurde ich von meinem Bruder herzlichst begrüßt: „Wo warst du, verdammte Scheiße?! Wir haben dich gesucht."

„Hat's euch Dave nichts erzählt?", fragte ich spöttisch.

„Woher hätte ich denn wissen sollen, wo du bist?"

Mit zu Schlitzen geformten Augen schaute ich ihn an. „Ich rede auch nicht davon."

Ricky kam auf einmal ein paar Schritte auf mich zu. „Hast du geweint?" Seine Stimme klang besorgt, jedoch drehte ich meinen Kopf nur weg. Er sollte nicht sehen, wie verletzlich ich gerade war, auch wenn er mein Bruder war, aber mir waren meine Gefühle nunmal unangenehm.

„Ich war bei Isabella", flüsterte ich, sodass nur er es verstehen konnte.

Wissend nickte er, lenkte aber vor den anderen vom Thema ab. „Wollen wir zu KFC?", fragte Ricky in die Runde.

Zustimmend nickte ich. „Ich hab Hunger."

„Jetzt auf einmal...", sagte Dave leise in einem spöttischen Ton.

Böse schaute ich ihn an. „Halt doch einfach mal deine Fresse, Dave, und schieb dir dein scheiß ‚jetzt auf einmal' in den Arsch."

Anscheinend hatte Dave mein aufgedunsenes, gerötetes Gesicht auch bemerkt. „Ooh, hat da jemand vorhin geweint?", schmollte er.

Es war genug Provokation, um mich dazu zu bringen, ihm mit meiner Faust mitten ins Gesicht zu schlagen.

Vor Schmerz hielt er sich die Nase „Fuck, du miese Schlampe. Die ist vielleicht gebrochen!"

„Ooh, heul doch", schmollte ich ihn an so wie er mich vor wenigen Minuten. Ich setzte mich in mein Auto und fuhr nach Hause, um mich für eine Party fertig zu machen. nach diesem Tag brauchte ich definitiv etwas Ablenkung.

Number Six (Wird überarbeitet)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt