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„Eis, was war das gerade?", sprach er leise zu mir und ich versteifte mich prompt. Doch er sprach bereits weiter zu mir, nun tadelnd wie zu einem Nestling. „Du musst dein Opfer doch erlegen, hast du das vergessen? Hier vor Ort und nicht dort oben in der Stadt! Nun ja, ... jetzt aber solltest du ihr noch möglichst schnell folgen, damit sie die Innenstadt nicht mehr erreicht. Sei schnell und berühre nicht den Boden, sodass dich keiner sieht, bring sie zurück und lösche den Reiz aus!", befahl er mir sehr kontrolliert, nüchtern und sachlich klingend. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr so reden gehört, oder? Zumindest nicht bewusst.

Reagierte der Eis in mir noch immer auf seine Befehle? Dann war die Drrûff also noch nicht ganz vorbei, oder? Vielleicht auch erst mit dem heutigen Tag ...?!

Doch warum ließ Jamie den Eis nun einfach so in dieser Stadt voller Menschen einen einzelnen Menschen jagen gehen? Ich musste demnach noch sehr viel schneller und effizienter geworden sein als gedacht.

Langsam wandte ich mich nun jedoch zu meinem Erzeuger um, der ebenfalls älter geworden war, auch wenn er sich nicht allzu sehr verändert hatte, und schenkte ihm einen überaus kühlen Blick, der Jamie kurz stutzen ließ, denn er bemerkte wohl, dass ich gerade vollends bewusst war, bevor ich mich schließlich wieder von ihm abwandte und weiter aus dem Fenster schaute. „Sei gegrüßt, Ahmre.", sagte ich dem zeremoniell folgend zu ihm und hörte ihn gleich darauf hart aufkeuchen. „Eis?"

Ich nickte nur kurz. „Etwas Seltsames ist mit mir geschehen, ich kann es nicht recht in Worte fassen, doch ich bin mir gerade sehr bewusst, wo ich bin und was ich tue. Und ich muss dir sagen, dass ich gerade nicht vorhabe, dieses Menschenmädchen da draußen zu jagen und zu töten. Denn als ich sie erblickte, ... bannte sie mich auf eine seltsame Weise. Wie und wozu, das muss ich noch näher ergründen.", erklärte ich ihm einzig mein gerade bewusstes Sein und er keuchte nur erneut überrascht auf. Ich aber sah nur wieder zum Fenster hinaus und das Mädchen nun auf der Serpentine in Richtung Stadt entschwinden.

„Du ... bist gerade also bewusst und bei Verstand? Wie, bei Drodars Höllenfeuern, ist das möglich? Du warst Jahre ohne Besinnung und nun sprichst du einfach?", fragte er mich. Kim fuhr außer Sichtweite ... und prompt begann das Kribbeln in meiner Hand zu vergehen und mein Herzschlag verlangsamte sich wieder zum gewohnten stetigen Rhythmus.

Also wandte ich mich nun doch wieder zu ihm um und sah meinen Erzeuger schlicht an. „Es ist Euch untersagt, Kim vom Blitzkurier zu jagen oder zu töten, Jamie. Ich werde es nicht zulassen, denn sie gehört mir.", erklärte ich ihm schlicht, denn ich kannte schließlich Jamies Art. Und richtig. „Das ist wirklich erstaunlich, Eis. Und natürlich ist es gut, wenn du gerade tatsächlich so kontrolliert sein kannst, um mit mir zu sprechen und zu antworten, wenn ich dir Fragen stelle ... Doch erlaube mir nun, dich zu läutern. Denn du hast gerade den Zweck unserer Übung verfehlt.", erklärte er mir bewusst sachlich sprechend und bar jeglicher Emotionen, was mich nun schon ein wenig verwunderte. Denn früher hatte er noch ganz anders mit mir gesprochen. Ich musste mich demnach wirklich sehr verändert haben ... und auch sehr viel gefährlicher geworden sein.

„Und was genau ist nun der Zweck dieser Übung?", forderte ich also von ihm zu wissen und runzelte dabei irritiert die Stirn.
Er schluckte hörbar und war nun sichtlich überrascht.
„Wir halten die Reizungen durch die Menschen in deiner unmittelbaren Umgebung bewusst gering, indem wir dir ausgewählte Opfer zukommen lassen ... Töte lieber kontrolliert, statt desorientiert, Eis. So können wir immer noch unter ihnen leben und du ebenfalls. Dieses Menschlein dort nun einfach so entkommen zu lassen, nachdem sie dich sah ... und sie hat tatsächlich weit mehr gesehen, als du ahnst. Also folge ihr nun! Beende es schlicht!", forderte er leise und mit beruhigend tonloser Stimme. Doch ich antwortete ihm diesmal nicht, sondern schüttelte nur einzig den Kopf.

Er atmete hörbar tief durch. „Eis, ich begreife es gerade nicht. Sonst bist du nicht so widerspenstig. Also, was ist mit dir heute? Hast du die Drûff etwa schon verlassen?", fragte er mich plötzlich leise. Ich hob ganz kurz die Schultern und sah ihn nur an. „Das kann ich dir nicht beantworten. Ich bin schließlich erst vor einigen Minuten bewusst geworden. Und ich denke, das hängt mit dem Mädchen zusammen, wie schon gesagt, bannt sie mich. Bannt den Eis in mir und bindet mich an diese Gestalt. Ich werde also mein momentanes Bewusstsein nutzen und selbst nachforschen, was es genau ist, dass sie getan hat, um mich aus meinem unbewussten Eis-Sein aufzuwecken."

„Aber dazu solltest du sie erst einmal zurückholen, Eis. Du kannst sie dann ja mit hinunter in den Hort nehmen oder raus in den Wald. Auf deine Eis-Insel oder ..."

Ich unterbrach ihn, barscher diesmal, und eisig klingend. „Ich warne dich eindringlich davor, dich hierin einzumischen, Jamie.", warnte ich ihn einzig nur noch einmal und meine Augen glühten brennend heiß auf.

Jamie riss erstaunt die Augen auf. Doch ich war bereits auf halbem Weg zur Tür, wo ich dann aber auf eine besorgt blickende Estrella traf. „Ahma ...", begrüßte ich sie mit einer kurzen Verneigung, wie es Brauch war. Und sie erstarrte förmlich vor Ehrfurcht und Staunen.

„Eis, wo ... willst du jetzt hin? Der Reiz ist doch noch immer nicht gestillt, was, wenn du rasend wirst und die ganze Stadt in Schutt und Asche legst ...", fragte sie mich bemüht tonlos und ich blieb irritiert neben ihr stehen.
„Steht das denn zu befürchten?", fragte ich sie verwirrt. Sie nickte nur heftig und berührte ganz kurz meinen Arm, doch auf ein Zischen Jamies hin zog sie ihre Hand schnell wieder zurück. Das war auch besser so, denn die kurze Berührung hatte mich gerade weit mehr gereizt als das Mädchen vorhin. Brodelnd und brüllend begehrte der Eis in mir auf und wollte ausbrechen ...

„Eis!", wisperte sie heiser. „Du musst zumindest erst einmal Jagen gehen!", bat sie mich hauchleise.

Ich erzitterte kurz und fühlte die Anspannung in mir wachsen, ebenso die taube Kälte, die wieder von mir Besitz ergreifen wollte. Rasch erinnerte ich mich an den Blick des Mädchens, ... an Kim. Die Nebelaugen und das Brüllen der Bestie in meinem Inneren verstummte schließlich doch wieder. Nun aber hatte sich während des kurzen, inneren Kampfes alles verändert. Jamie hatte Estrella hinter sich gezogen und zischte ihr leise zu, nun still zu sein und sich nicht zu rühren, um das Junge nicht zu gefährden, das gerade im Nesthort schlief.

Ich hatte also wirklich eine Schwester, wie ich es verschwommen erinnerte. Und wieder brüllte der Eis in mir auf, wollte meine Sicht in glühendes Rot tauchen und mein Bewusstsein verschwimmen lassen. Schnell atmete ich durch und erzitterte dann vor Anstrengung, die es nun doch wieder bedeutete, diese Form zu halten. Erinnerte mich an das Lächeln des Mädchens, ihre Worte „Ich bin Kim ... vom Blitzkurier ..."
Süße Worte, ... weiche, melodische Stimme und dann erst diese Nebelaugen, die mich anblickten, als sei ich ihr ebenbürtig, statt ein eiskaltes Monster.

„Ich ... denke, du hast recht, Ahma Estrella.", sprach ich meine Mutter schließlich wieder leise an, ohne zu ihr hinzusehen. „Ich sollte besser zunächst jagen gehen. Doch, ... wisset. Solange ich nun bewusst bin und denken kann, braucht ihr um das neue Junge keine Sorge zu haben. Es ist sicher vor mir, wie auch ihr beiden und der Clan. Es sei denn natürlich, ihr mischt euch doch noch in die Sache mit dem Mädchen Kim ein. Sie gehört nur mir, verstanden? Und nur ich werde entscheiden, was ich mit ihr mache, wo und auch wann.", warnte er nun alle beide und hörte Jamie noch einmal tief einatmen, beachtete ihn aber nicht mehr weiter und ging zur Tür hinaus.

„Eis! Nein! Was hast du jetzt vor? Du wirst doch nicht etwa in der Stadt auf Menschenjagt gehen ...?", kam Jamie mir nun eilig hinterher und hielt mich an der Treppe noch einmal auf, doch ich fand es gerade nicht mehr ganz so reizend, was er tat, da ich mir immer noch ständig das Gesicht des Mädchens in Erinnerung rief. Es wirkte tatsächlich wie ein Schild gegen die Kälte des Eis-Seins in mir und so legte diesmal ich meinem Vater die Hand beschwichtigend auf den Arm, was diesen aber beinahe zusammenbrechen ließ ... Ich war zu stark, erkannte ich verwundert und staunte nicht schlecht. Denn das Mädchen hatte unter meiner Berührung ihrer Hand weder gewankt, noch gezittert.
Seltsam.

Das Zeichen der DrachenWhere stories live. Discover now