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Eis

Ich stand still im vierten Stockwerk der Villa, am obersten Fenster des Turmes und sah mit rasendem Herzklopfen und fast schon keuchendem Atem dem entschwindenden Mädchen auf dem Blitzbike hinterher, bis es über die Brücke in den Park verschwunden war. Seltsam, wie klar ich sehen, verstehen und sogar sprechen konnte. Außerdem bebte meine Hand. Ja, ich sah stirnrunzelnd darauf nieder und fühlte da etwas ... Meine Finger kribbelten seltsam, genau dort, wo ich vorhin in Kontakt mit ihrer Haut gekommen war ... Als ich ihr diesen Geldschein in die Hand gelegt hatte und dabei ihre Finger unter meinen hielt ... Ich hatte die Wärme ihrer Haut gespürt, ihr rasches, kräftiges Herzklopfen gehört, das von der körperlichen Anstrengung viel schneller schlug als gewöhnliche menschliche Herzen. Doch als ich sie berührte, hatte es einen Satz gemacht. Hatte sie es also auch so gefühlt?

Jamie ahnte noch nichts von dem Kribbeln meiner Finger, von meinen gerade so klaren Gedanken und den Gefühlen, die mich gerade mehr als nur erstaunten - zum Glück. Sonst hätte er Kim gewiss nicht wieder gehen lassen.

Ich schloss kurz die Augen, versuchte meinen Herzschlag wieder zu beruhigen, denn Eis' Herz schlug niemals schneller oder langsamer als gewöhnlich und spürte dabei kurz in mir nach, wo das Wilde, das Dunkle, brodelnd und bestienhaft kalt die Herrschaft über mich zu ergreifen suchte. Der Eis in mir wollte ihr nachjagen, ... ja. Jetzt sofort. Und ich wollte das ebenfalls, wollte dem Drängen in mir nachgeben, sie einfach einzuholen, zu packen, vom Rad zu zerren und an einen stillen, abgelegenen Ort zu bringen, um ... ihr dann noch etwas länger in diese schier unglaublich fesselnden, eisgrauen Augen zu blicken. Bei den Ahnen ... Nein! Das war seltsam.

Sie hatte mich gerade tatsächlich angelächelt, so sonderbar warm. Als würde sie mich anziehend finden oder gutaussehend oder ... als sei ich nun gar kein Eis mehr.

- Nein! ... Nein, nein! So etwas durfte ich nicht denken, nicht wagen, nicht hoffen oder glauben, denn das Mädchen war ein Mensch und ich war es nicht.

Moment ... Warum dachte ich gerade überhaupt darüber nach, was ich denken sollte und was nicht? Ja, ... warum dachte ich überhaupt? Das hatte ich doch schon ziemlich lange nicht mehr so getan, oder? Ich war schließlich der Eis. Die letzten Tage, Wochen, Monate, ... ja, sogar Jahre lagen im Nebel. Ich hatte mich vorhin beim Hereinkommen durch die Eingangstür kurz im Spiegel gesehen und erinnerte mich dank meines ausgezeichneten Gedächtnisses auch noch gut an das letzte Mal. Da war ich noch viel kleiner gewesen, wie alt? Vierzehn ... oder fünfzehn? Bei Weitem noch nicht so groß und fast schon erwachsen aussehend, so wie heute. Also wie viel Zeit mochte seither verstrichen sein? War ich nun schon zwanzig oder sogar noch älter?

Kurz betrachtete ich wieder meine eigene Hand, ... bildete eine Klaue aus, nur eine halbe Wandlung, ließ mir auch ganz bewusst lange Krallen daran wachsen und dann aber gleich wieder in die so menschlich aussehenden Finger zurückschrumpfen. Komisch. Wie konnte ich das denn gerade so genau steuern? Ich war viel zu bewusst und bei klarem Verstand. Ich könnte ihr nun auch folgen, es würde sicher nur eine Sekunde dauern ... oder eine halbe, dann stünde ich wieder vor ihr. Doch warum sollte ich das wollen? Oh, Ahnen ... Irgendetwas zog an mir, ... vielleicht ja sie? Das Mädchen?!

- Ja ...!
Sie
zog an mir, an meinem Geist, meiner Seele, meinem Eis-Wesen, einfach an allem, oder? Was war das nur? Ich wollte ihr folgen!
Kurz blickte ich wieder tief durchatmend hinaus auf den Weg gegenüber der anderen Seeseite, wo Kim gerade in Richtung Brücke fuhr. Ein paar Jogger, Radfahrer und auch Spaziergänger mit Hunden an der Leine sahen sie, als sie an ihnen vorbeiflitzte.
Ich analysierte innerhalb von Sekundenbruchteilen deren relative Geschwindigkeit zu der von Kim ... Sie war für einen so kleinen Menschen wirklich erstaunlich schnell, wurde aber gerade deshalb von allen bemerkt, ... wurde gesehen. Und wenn ich sie mir nun einfach wegschnappen würde ...?
- Nein. Es waren gerade zu viele Menschen unterwegs und sie würden mich bemerken, zumindest meinen Schatten. Auch wenn ich diese neue Umgebung hier noch nicht kannte, in der ich mich nun befand, ... weder das Land wusste, noch die Stadt ... Ich erinnerte mich dennoch an Jamies Erklärungen zu den ständig wechselnden Orten, die den Clan vor den anderen Drakoniern und speziell unseren Nesthort vor dem Mog'a'agur Darkengarrds schützen würden. Vermutlich war es Zeit gewesen, weiter zu ziehen oder ich war irgendwo anders zu wild geworden ... Ich erinnerte mich noch vage daran, dass Estrella ein neues Junges geboren hatte. Ich durfte den Clan-Hort schon allein deshalb nicht verraten, indem ich mich nun so auffällig verhielt. - Oder?

Wieder blickte ich schweigend auf meine menschliche Hand, hielt mühelos diese lächerliche, von Jamie mir oft aufgezwungene Gestalt. Wie ging das so plötzlich? Wie konnte ich das heute so lange halten? Früher hatte ich mich doch stets sehr anstrengen müssen, um auch nur fünf Minuten in dieser Gestalt zu schaffen, bevor der Eis wieder aus mir herausbrach. Es hatte mich nur immerzu gereizt, ein Mensch zu werden – war mir zu eng, zu klein, zu wenig. Doch gerade jetzt konnte ich mich nicht einmal richtig an meine andere Gestalt erinnern. Gerade jetzt blieb ich ein Menschenwesen. – Genauso wie sie, ... wie Kim.

Wieder drehte sich alles in meinem Kopf. Ihre Nebelaugen blitzten vor meinem inneren Auge auf, ich sah erneut ihr Lächeln. Sie hatte mich angelächelt. ... Ich erzitterte wie in höchster Raserei.

„Warum?", fragte ich mich selbst wütend und ja, auch ziemlich verwirrt, und blickte zum Fenster hinaus. Da radelte sie immer noch, auf der anderen Seite des Flusses den Weg entlang. Da waren weniger Menschen unterwegs. Ich konnte ihr nun immer noch folgen ... Doch ich wollte es gerade nicht. Nicht so, nicht jetzt. – Seltsam.

Denn mir selbst in irgendeiner Art und Weise Zurückhaltung aufzuerlegen, wenn es darum ging, mir ein Opfer zu schnappen, das auch noch eigens für mich ausgewählt und angelockt wurde, war vollkommen neu für mich. Ein ungewohntes Gefühl, das ich eigentlich gar nicht empfinden dürfte. Sie hatte mich angelächelt. War nicht weggelaufen, hatte keine Angst vor mir verspürt ...

Doch wie konnte das möglich sein? Alle hatten sich stets vor mir gefürchtet, selbst die stärksten meines Clans, selbst die menschlichen Jäger, die Krieger in den Stahlkisten am Himmel, welche sie Flugzeuge oder Jets nannten.

Doch es berührte mich normalerweise kein Stück, wie sich jemand verhielt. Sie bewegten sich, ich reagierte, ... sie rannten, ich tötete, ... Ende! Darüber hinaus hatte nichts je eine Bedeutung gehabt. Niemals! – Oh, Ahnen ...
Waren es denn nun echte Gefühle, die ich gerade verspürte? War das Wiederwillen, Abneigung, Neugierde auf das Mädchen, auf ihre Worte, ihr Handeln, ihre Art zu lächeln und mich viel zu offen und direkt anzublicken, statt kreischend vor mir davonzulaufen?

Ich erinnerte mich noch ganz genau an jedes winzige Detail. Da war ein kleines Grübchen in ihrer linken Wange, wenn sie lächelte. Ich hatte es berühren wollen, mich aber gerade noch beherrschen können. Ein seltsamer Kopfschutz hatte ihr mausbraunfarbenes, seltsam a-symmetrisch geschnittenes und ziemlich verschwitztes Haar bedeckt. Sie war nichts Besonderes, ... konnte auch gar nichts Besonderes sein und doch gab nur die Erinnerung an ihren Blick mir gerade wieder einen Stich, den ich tief in meiner Brust spürte.

Ich muss unbedingt herausfinden, wie alt sie ist und wo genau sie lebt, dachte ich bei mir und bemerkte nicht mal die sorgenvollen Blicke meines Erzeugers Jamie, der gerade hinter mir in den Raum eingetreten war.

Das Zeichen der DrachenKde žijí příběhy. Začni objevovat