Kapitel 11

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„Ich hoffe für Sie, dass es sich lohnt mich so auf die Folter zu spannen." Zwei grüne Augen sahen mich funkelnd an. Zwei grüne Augen, in denen ich ohne Mühe versinken könnte.

„Sie sind also nicht bloß perfektionistisch, sondern auch neugierig?", fragte ich sie mit einem leichten Grinsen auf meinen Lippen. Ich war froh, dass es nach ihrer Bemerkung letztens in der Uni keine Spannungen zwischen uns gab. Oder besser gesagt, keine negativen.

„Wie Sie feststellen, stecke ich voller positiver Eigenschaften.", sagte Frau Michelsen und presste ihre Lippen aufeinander, um ein Grinsen zu unterdrücken.

„Das ist mir schon längst aufgefallen", sagte ich ohne eine Miene zu verziehen und war mir nicht sicher, ob ich diesen Satz besser nur hätte denken sollen. Doch Frau Michelsen schien meine Aussage nicht zu überraschen, zumindest ließ sie sich nicht anmerken. Wie konnte sie so entspannt und selbstsicher mir gegenübersitzen, während ich allein bei ihrem Anblick versuchen musste meinen Puls zu beruhigen? Frau Michelsen saß wie die Ruhe selbst am anderen Ende des Tisches, hatte die Hände ineinander gefaltet und wich selbstsicher wie immer, keinem meiner Blicke aus.

„Also was haben Sie sich überlegt, Frau Mai?", fragte sie und drehte ihren Ehering am Finger hin und her.

„Ich möchte über den Tod schreiben.", sagte ich und wartete auf ihre Reaktion. Sie schien überrascht zu sein, ein wenig aus dem Konzept gebracht. Belustigt sah ich sie an und beobachtete, wie sie nach Worten zu suchen schien, nicht ganz sicher was sie davon halten sollte. Ich konnte mir ein leises Lachen nicht verkneifen und erlangte ihre Aufmerksamkeit wieder.

„Tut mir leid, das konnte ich mir nicht verkneifen.", erklärte ich und Frau Michelsen lächelte zwar, schien aber auf meine Erklärung zu warten. „Also ich bin bei meinen Recherchen über der Vorleser auf ein paar andere Bücher gestoßen, die alle den Zweiten Weltkrieg thematisieren und da fiel mir eins meiner Lieblingsbücher ein, das ebenfalls mehr als gut zum Thema passt - Die Bücherdiebin. Ich weiß nicht, ob sie das kennen, oder vielleicht gelesen haben?" Ein warmes Lächeln bildete sich auf ihren Lippen.

„Natürlich habe ich es gelesen, sogar mehrmals. Die Bücherdiebin ist auch eins meiner Lieblingsbücher, so traurig und ehrlich und doch zugleich so unglaublich..."

„...schön geschrieben.", beendeten wir beide gleichzeitig den Satz und schauten uns für ein paar Sekunden bloß an. Ich konnte ihren Blick nicht wirklich deuten, dennoch strahlte er Wärme und irgendwie Freude aus. Keiner von uns beiden sagte etwas, wollte diesen kurzen Moment zwischen uns nicht beenden. Noch nie hatte ich so sehr das Verlangen verspürt, einfach aufzustehen und diese Frau zu küssen und ihr endlich zu sagen, was ich für sie empfand.

„Nach Ihrer Aussage hätte ich ja mit vielem gerechnet, aber nicht mit diesem Buch." Mit diesen Worten unterbrach Frau Michelsen die Stille zwischen uns.

„Ich stecke eben voller Überraschungen.", sagte ich und zuckte leicht mit den Schultern.

„Das ist mir schon längst aufgefallen", konterte Frau Michelsen und ging damit auf meinen Kommentar von zuvor ein.

„Jedenfalls würde ich gerne auf die Funktion des Tods als Erzähler eingehen und untersuchen, ob man das Buch und seine Elemente zum Magischen Realismus zählen kann.", erklärte ich weiter und hoffte nun umso mehr, dass ihr die Idee gefiel. Frau Michelsen lehnte sich zurück, überkreuzte ihre Arme und ging meine Worte im Kopf vermutlich nochmal durch.

„Wenn Sie das so sagen, klingt das alles wie ein Kinderspiel, Frau Mai.", sagte sie schließlich nach kurzer Zeit. Während ich nach einer Antwort suchte, tippte sie mit ihren Fingern an ihr Kinn und schien selbst nachzudenken. Abgelenkt durch die Schönheit dieses Anblickens, war ich froh, dass sie weiterspach.

„Also das sollte jetzt nicht heißen, dass mir die Idee nicht gefällt.", fuhr sie vorsichtig fort. „Im Gegenteil, gerade da die Form des Erzählers so ungewöhnlich und doch gleichzeitig vielsagend ist. Deshalb müssen Sie beim Schreiben aufpassen, dass Sie sich nicht um Kopf und Kragen argumentieren und schreiben. Sie oder wir sollten uns da eine gute und eingrenzende Struktur überlegen. So ambitioniert Sie auch sind, manchmal ist weniger mehr.", erklärte sie.

Gemeinsam überlegten wir, wie ich meine Arbeit am besten strukturieren könnte. Und obwohl ich weder angefangen noch eine Note hatte, war ich froh darüber, bei ihr zu schreiben. Ganz unabhängig von meinen Gefühlen für Frau Michelsen, beruhigte es mich, dass sie so hilfsbereit war. Gerade am Anfang, bei dem eine kurze Idee zu einer 40-seitigen Arbeit werden soll, nahm mir ihre Unterstützung und ihr direktes Feedback ein wenig die Angst. Ich freute mich sogar darauf anzufangen. Während wir versuchten einige Leitfragen aufzustellen, sprachen wir über einige Szenen aus dem Buch und obwohl ich es nicht für möglich gehalten hatte, beeindruckte diese Frau mich immer wieder aufs Neue. Die Art, wie sie ihre Gedanken in Worte fassen konnte, einen Blick für die Kleinigkeiten hatte und dennoch das Besondere darin sah. Ich hätte ihr stundenlang zuhören können, wie sie sich an ihre Lieblingsstellen erinnerte und nahm mir vor, mindestens eine davon in meiner Arbeit zu analysieren.

Auch Frau Michelsen schien Gefallen an unserem Gespräch gefunden zu haben, da sie die Zeit vollkommen aus den Augen verloren hatte. Mitten in unserer Unterhaltung klopfte es plötzlich an die Tür und wir beide schauten uns erschrocken an. Eine der Hilfskräfte kam herein.

„Ich möchte euch zwei nicht stören, aber es sind noch zwei andere Studenten unten, die schon eine ganze Weile warten, Anne.", sagte sie entschuldigend. Anne. Da war sie wieder, diese lächerliche Eifersucht, dass andere sie bei ihrem Vornamen nennen durften und vermutlich jeden Tag die Chance hatten, sich so ungezwungen mit ihr zu unterhalten.

„Oh, du hast vollkommen Recht. Wir haben schon eine viertel Stunde überzogen, das ist mir gar nicht aufgefallen. Sagst du unten Bescheid, dass wir gleich fertig sind?", fragte nun Frau Michelsen entschuldigend und wandte sich erst zu mir, als sich die Tür wieder schloss.

„Tut mir leid, Frau Mai. Manchmal lasse ich mich wohl zu sehr von meiner Liebe zu Büchern hinreißen. Aber Sie haben ja gehört, dass die Pflicht ruft.", sagte sie und unterschrieb noch schnell meinen Antrag für die Bachelorarbeit.

„Vielleicht können die anderen Ihre Liebe mit ihren Themen ja aufrechterhalten.", antwortete ich und zog meine Jacke an.

„Sagen Sie es nicht weiter, aber das bezweifle ich. Sie wissen im Gegensatz zu vielen anderen wenigstens, wovon Sie sprechen.", sagte sie und zwinkerte mir zu, als wir gemeinsam zur Tür gingen.

„Hoffentlich denken Sie das auch noch, nachdem Sie meine Arbeit gelesen haben." Wir verabschiedeten uns voneinander und ich war beinahe traurig, dass die Sprechstunde vorbei war.

„Davon bin ich überzeugt. Falls es noch Probleme oder Unklarheiten geben sollte, schreiben Sie mir ruhig.", sagte sie zum Abschied und ich nickte bloß noch, bevor ich die Treppen runterstieg.

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