Kapitel 3

12.1K 401 22
                                    

Der Rest der Woche verging ohne besondere Ereignisse. Mittlerweile war es Samstag und ich suchte gerade meinen Schlüssel.
"Katrin, hast du meinen Schlüssel gesehen?", rief ich durch die Wohnung, in der Hoffnung, dass meine Mitbewohnerin eine Idee hatte.
"Nee, aber schau mal in deiner Jackentasche nach. Ich hab doch aufgeschlossen, als wir vom Einkaufen zurückkamen. Vielleicht ist er ja da", schnell tastete ich die Jacke ab und siehe da, das Problem war gelöst.
"Hab ihn, danke. Ich bin jetzt weg, treffe mich noch mit Julia", sagte ich und zog die Tür zu. Katrin und ich wohnten seit Beginn des Studiums zusammen. Wir kannten uns vorher nur flüchtig, obwohl wir aus derselben Gegend kamen. Wir waren auch jetzt nicht die engsten Freundinnen geworden, aber kamen gut miteinander aus und unternahmen ab und zu was zusammen. Doch heute Abend war ich mit meiner besten Freundin Julia verabredet. Sie wohnte zwar in einer anderen Stadt, dennoch versuchten wir uns einmal die Woche zu sehen und das klappte auch meistens. Heute wollten wir gemeinsam ein paar Cocktails trinken und ich konnte es kaum erwarten, sie nach der Woche endlich wiederzusehen.

Wir trafen uns in einer unserer Lieblingsbars der Stadt, die am Wochenende nicht nur uns zwei anlockte, um ein wenig Spaß zu haben. Sie lag ein wenig abseits von den typischen Hotspots der Partytouristen und der Studentenkneipen, sodass das Publikum dort wirklich angenehm war. Als ich am Eingang ankam, stand Julia schon draußen und quatschte mit dem Türsteher. Ich gesellte mich zu den beiden und nachdem wir uns noch kurz unterhielten, gingen wir rein und suchten uns einen Platz. Weiter hinten an der Bar waren noch zwei Plätze frei. Eilig gingen Julia und ich dorthin, bevor uns jemand den Platz wegnehmen konnte.

"Perfektes Timing." Grinsend schob Julia den Hocker zur Seite und wir setzten uns an die Bar und bestellten unsere ersten Cocktails. Während es in der Bar immer voller wurde, brachten Julia und ich uns gegenseitig auf den neusten Stand. Wir zwei waren schon seit knapp zehn Jahren befreundet und hatten uns damals nach dem Übergang auf die weiterführende Schule kennengelernt. Julia kannte mich in und auswendig, kannte meine Macken und gab mir das Gefühl, dass ich bei ihr immer vollkommen ich selbst sein konnte. Wir haben in all den Jahren viel gemeinsam erlebt, Gutes und Schwieriges und wussten, dass wir einander blind vertrauen konnten. Ich hatte Julia natürlich auch von Frau Michelsen erzählt, die wir unter uns immer Anne nannten und wie sehr diese mich am Mittwoch durcheinander gebracht hatte.
"Das muss endlich aufhören, Hannah." Julia trank den letzten Schluck von ihrem Drink.
„Was muss aufhören? Ich kann doch nichts für meine Gefühle." Trotzig versuchte ich einen kleinen Eiswürfel durch den Strohhalm zu ziehen. "Kannst du auch nicht, aber das meinte ich auch nicht. Du suchst dir immer Frauen aus, die für dich unerreichbar zu sein scheinen. Du bewunderst gerne und himmelst diese an, ohne selbst im Mittelpunkt stehen zu wollen. Wenn du dir dann über deine Gefühle im klaren bist, traust du dich nicht mehr einen Schritt zu riskieren und genau diese vermeintliche Unerreichbarkeit macht dir dann einen Strich durch die Rechnung. Das war schon immer so, seit damals in der Schule mit Frau Kehren. Du hälst die Augen nach Frauen offen, bei denen du dir sicher sein kannst, dass du bei ihnen womöglich keine Chance hast und leidest dann lieber, wenn dir dein Anhimmeln aus der Ferne nicht mehr ausreicht. Die Frauen, bei denen du Chancen hast, interessieren dich nicht mal", sprudelte es nur so aus ihr heraus.

Und das Traurige daran war, sie lag vollkommen richtig. Ich suchte mir Frauen aus, die ich in meinen wildesten Träumen vielleicht für mich gewinnen konnte. Anfangs dachte ich, dass diese Frauen vielleicht etwas ausstrahlten, was ich an mir nicht finden konnte - eine Art Ideal, das ich selbst anstrebte. Doch mit der Zeit fand ich heraus, dass dem nicht so war. Die Frauen, in die ich mich verliebte waren keinesfalls perfekt, hatten selbst ihre Probleme und Schwächen, was sie aber für mich nur noch interessanter machte. Vielleichte suchte ich nach dem Unerreichbaren, um mich selbst zu schützen. So blieb es mir wenigsten erspart, mich auf einen neuen Menschen einzulassen, ihm meine Liebe und mein Vertrauen zu schenken und am Ende doch nur enttäuscht zu werden.

„Das mit Anne ist anders. Ich würde alles dafür tun, um sie wirklich kennenzulernen. Sogar um sie anfassen zu können. Ich kann an nichts anderes mehr denken, wenn ich sie sehe. Das ist kein bloßes Schwärmen, Julia. Ich habe mich verliebt und versuche mich vor einem großen Fehler zu bewahren. Sie ist schließlich meine Dozentin", rechtfertigte ich mich.
„Sagen wir mal, du würdest herausfinden, dass sie auch auf Frauen steht oder du die geringste Chance bei ihr hättest, würdest du dann endlich mal in die Offensive gehen?", fragte sie, während der Barkeeper uns noch zwei Cocktails und zwei Kurze hinstellte. "Ja, sofort. Ohne Rücksicht auf Verluste.", sagte ich vielleicht ein wenig zu schnell. "Aber erstens ist Anne verheiratet, sie trägt zumindest einen Ehering und zweitens werde ich nicht außerhalb der Uni mit ihr in Kontakt kommen. Wie soll ich da bitte irgendwas auf die Reihe kriegen?" Wir stießen an und tranken den Schnaps aus.
„Glaub mir, falls Anne auch auf Frauen steht, dann wirst du sie von dir überzeugen können. Sie könnte froh sein, so eine Frau wie dich an ihrer Seite zu haben!", versuchte Julia mich aufzuheitern. „Weil ich jung und attraktiv bin?", fragte ich aus Spaß und hob eine Augenbraue. „Genau. Aber dazu bist du noch intelligent, charmant und hast einen guten Sinn für Humor. Manchmal bist du etwas zu sarkatisch, aber das wird sie sicherlich auch an dir lieben lernen."
„Und wie soll sie das bitte erfahren? Ich sehe Anne einmal die Woche und verhalte mich in der Zeit wie ein totaler Vollidiot. Da überzeuge ich sie sicherlich nicht wirklich mit." Jetzt war es Julia die ihre Augenbrauen hochzog und verschwörerisch grinste.
„Du musst Wege finden, um mehr Zeit mit ihr zu verbringen und dich in ihrer Nähe selbstsicherer zu fühlen. Literaturwissenschaft ist das, was du an deinem Fach am liebsten magst. Zeig ihr, wie sehr du dich dafür begeistern kannst und versuche damit zu punkten. Zeig Interesse an dem, was sie euch beibringen will und vor allem Interesse an ihr. Hast du mal überlegt, deine Bachelorarbeit bei ihr zu schreiben? Vielleicht wäre das eine Möglichkeit, um öfters mit ihr ins Gespräch zu kommen. Oder du schaust mal nach, ob bei euch eine Stelle als studentische Hilfskraft frei ist. Gerade zu Beginn des Semesters sind doch oft neue Stellen zu besetzen. Du musst nur endlich mal aktiv werden und zeigen, dass du es wert bist, mehr als deine Matrikelnummer zu beurteilen! Wir zwei werden das ab jetzt in Angriff nehmen und du wirst sehen, dass du nichts zu verlieren hast." Ich nahm erstmal einen großen Schluck von meinem Getränk.
"Ich weiß nicht, ob ich das hinkriege. Du kennst mich nicht so unsicher, weil du weißt, dass ich sonst nicht so bin. Mich schüchtert der Gedanke eher ein, als dass ich da mit meiner Art punkten kann." Julia verdrehte bloß die Augen. "Dann sprechen wir jetzt hier Frauen an und testen das. Es ist alles eine Frage der Übung." Schon wurde ich auf die Tanzfläche gezogen und ich versuchte das Thema Frau Michelsen für den Rest des Abends auszublenden.

SemesterliebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt