Morgen

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Als der Wind durch meine Haare weht, fühle ich mich frei. Ich möchte lachen und tanzen, schreien und springen. Der Sand zwischen meinen Zehen und die Möwen, die über uns kreisen geben mir das Gefühl von Freiheit. Das Rauschen des Meeres nimmt mich so sehr ein, dass ich all die fremden Stimmen ausblende.

Erst in endlosen Weiten scheint das dunkle Blau des Wassers in den noch orangefarbenen Himmel überzugehen.

"Gefällt es dir?" Jensen's Arme legen sich um meine Hüfte, während er seinen Kopf auf meiner Schulter abstützt. Mit einem kurzen Nicken bestätige ich ihm, dass es hier wunderschön sei. Zufrieden küsst er meine Wange.

Ein paar Minuten beobachten wir einfach wie die flachen Wellen immer wieder brechen, weißer Schaum sich bildet, welcher gleich von der nächsten Welle erfasst wird. Immer wieder werden Muscheln im Sand aufgewühlt, andere verschwinden nach einer Weile wieder im brausenden Nass.

Die tiefe Stimme meines Begleiters reist mich allerdings aus der Stille. "Was hast du gesehen? In der Werkstatt meine ich. Was hast du mitbekommen?" Er löst sich von mir und dreht mich so, dass wir uns ansehen. Ich erkläre ihm, dass ich nicht alles mitbekommen habe, aber einiges. Dass ich gesehen habe, wie gestritten wurde und wie die Schlägerei ausbrach. Und wie eine Waffe gezogen wurde und auf ihn gerichtet. Ein Hauch von Mitleid muss in meinem Blick liegen, als ich seine Verletzungen mustere.

Jensen fährt sich durch die Haare, während er angestrengt versucht meinen Blicken auszuweichen. "Tut mir leid, dass ich dich da mit rein gezogen habe, J. Ich hätte dich eigentlich nie in die Werkstatt bringen sollen. In was für eine Gefahr du dich begeben hast... für mich. Danke." Nur schwer kommen ihm die letzte Worte über die aufgesprungenen Lippen. 

Ich glaube nicht, dass Jensen es gewohnt ist, sich in irgendeiner Art für etwas zu entschuldigen oder zu bedanken und erst Recht nicht dafür, dass ihm sein Leben gerettet wurde. Aber ich sehe es gar nicht so. Ich mein ich habe es nicht getan, um sagen zu können "Seht her, ich bin ein Held. Dein Retter!". Wenn ich ehrlich bin, habe ich es vermutlich nicht mal für ihn getan, sondern für mich. Weil ich nicht damit hätte leben können, tatenlos zuzusehen. Weil ich es nicht ausgehalten hätte, wenn er vor meinen Augen hingerichtet worden wäre. Weil ich nicht weiß, ob ich es geschafft hätte, wenn er auf einmal weg wäre. Nicht weil er meine Große Liebe ist. Das bezweifle ja sogar ich. Keine Frage, ich fühle mich zu ihm hingezogen und er macht mich im Moment sehr glücklich. Aber wie gesagt: im Moment. Rational betrachtet ist es doch schon klar, dass wir niemals auf ewig zusammen sein werden. Das wäre auch vollkommen absurd. Wie viele finden denn schon mit 17 die Liebe ihres Lebens? 

Aber trotz allem macht er mich glücklich. Er ist jetzt da, wo ich ihn brauche. Und ich hätte nicht damit leben können, wenn ein Mensch, den ich mag, einfach so weg wäre.
Also, habe ich ihn vermutlich nur gerettet, weil ich egoistisch bin. Aber ist das Motiv nicht eigentlich auch egal?

Wichtig ist, dass er lebt und hier ist. Hier mit mir.
Ich erkläre ihm, dass er sich weder schuldig fühlen muss, noch bedanken soll. Schließlich hat er mich nie zu etwas gezwungen. Alles was passiert ist, ist geschehen, weil ich es so wollte. Und ich würde keinen Moment eintauschen wollen. Jede Sekunde der letzten fünf Tage würde ich niemals ändern wollen. 

Denn trotz all der Streits und der Probleme, habe ich so viele positive Erfahrungen gemacht und so vieles erlebt. All das ist unbezahlbar. Ich hab gelernt, dass nicht gut gleich gut ist und böse gleich böse. Dass manches hinter der Kulisse vollkommen anders aussieht, als auf der Bühne. Dass einiges nur Schein ist und anderes Schutz. Dass, die die nur das Beste für dich wollen, dir nur mehr schaden, als die, die an sich selbst denken. 

Und vor allem weiß ich jetzt, dass ich meinen eigenen Weg gehen muss. Dass ich manchmal einfach meinen Kopf abschalten und meinem Herzen folgen sollte, um glücklich zu werden.

Wie die Nacht zum Tag wurdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt