Dämmerung

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Schnaufend drücke ich mich vom Schreibtisch weg. Keine Sekunde länger kann ich mich mit Integralrechnung beschäftigen. Seit Stunden sitze ich an den Hausaufgaben und scheine nie fertig zu werden. Am liebsten würde ich sie einfach gar nicht machen, aber meine Eltern würden mich umbringen, wenn das heraus käme. Natürlich, wollen sie nur das Beste für mich.
Nur mit harter Arbeit kann ich meine guten Noten halten und nur mit guten Noten stehen mir später alle Türen offen. Das weiß ich selber genauso gut, wie meine Eltern. 
Trotz allem brauche ich eine kurze Pause, auch wenn ich nicht weiß wie ich die verlorene Zeit aufholen soll. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bereits kurz vor 10 ist und eigentlich möchte ich ungern bis Mitternacht am Schreibtisch kleben.
Vielleicht kann ich ja ein paar Aufgaben weg lassen? Wenn ich mich bei dem melde was ich bereits habe, fällt das doch sicher nicht auf. Aber was wenn doch? 

Ich seufze und stehe auf. Bevor ich mir weiter über irgendwas irgendwelche Gedanken mache, brauche ich einen freien Kopf. 
Nachdem ich mir was zu trinken geholt habe, setze ich mich zu meinen Eltern ins Wohnzimmer, wo eine dieser Krimiserien läuft. Aber kaum dass ich den Raum betrete, wechselt die Aufmerksamkeit der Erwachsenen vom Fernseher zu mir. 
"Und? Bist du fertig geworden mit deinen Hausaufgaben, Schätzchen?"

Schon aus reiner Gewohnheit nicke ich. Was anderes würden sie nicht hören wollen und mich ansonsten direkt wieder nach oben schicken. Ich liebe meine Eltern wirklich, aber bei manchen Dingen sind sie glaube ich einfach doch ein wenig zu streng. 
Ich lehne meinen Kopf an die Schulter meiner Mutter und verfolge desinteressiert das Geschehen im TV. Noch nie habe ich etwas daraus gewonnen, zuzusehen wie Schauspieler irgendwelche fiktiven Mordfälle lösen. Meistens gibt es sowieso viel zu viele Logikfehler in solchen Sendungen. Trotzdem scheint die Zeit nur so zu rasen und bevor ich es überhaupt merke ist es Mitternacht und meine Eltern machen sich auf den Weg ins Bett. 
"Möchtest du nicht auch langsam schlafen gehen, Jimmy?", fragt meine Mutter mit einem fürsorglichen Ton, aus dem Türrahmen heraus. 

"Ja. Ja, das sollte ich." Erschöpft gehe ich rauf in mein Zimmer. Kurz Huschen meine Augen über die offenen Bücher und halb beschriebenen Zettel, bin aber viel zu müde um mich noch darum zu kümmern. Ich werde einfach früher aufstehen und die Hausaufgaben vor der Schule machen.

____

Die Müdigkeit vom gestrigen Abend hat mich auch in der Nacht nicht verlassen und so sitze ich mit halb geschlossenen Augen im Klassenraum und versuche nicht einzuschlafen, während Mrs. Huber über ein Leben nach dem Tod  philosophiert. Wenigstens habe ich es, wie geplant, geschafft alle Aufgaben noch vor Schulbeginn zu erledigen und konnte guten Gewissens im Unterricht sitzen.  
Ein erleichtertes Stöhnen geht durch die Klasse, als es endlich klingelt und die meisten von uns ins Wochenende stürmen können. Eilig begebe ich mich zu den Bussen und freue mich, dass ich noch einen Sitzplatz neben Jessica bekomme, auch wenn ich sie nicht sehr gut kenne, mag ich sie.
Seid der Grundschule haben wir schon den selben Schulweg, da sie lediglich ein paar Straßen von mir entfernt wohnt. Aber über mehr als die Schule unterhalten wir uns eigentlich nie. 
An der Bushaltestelle verabschieden wir uns flüchtig.

Ich muss mich beeilen nach Hause zu kommen, da meine Eltern heute Abend mit mir und meinen älteren Geschwistern, die allesamt bereits ausgezogen sind, essen gehen wollen.
Als ich das Haus betrete, ist es noch leer. Umso besser, denke ich. Dann meckert wenigstens niemand, wenn ich mir Zeit im Bad lasse. 

Eine Weile stehe ich vor meinem Schrank und überlege mir welches Hemd und welche Krawatte ich anziehen soll, bis ich mich für eine schlichte dunkelblau-grau Kombi entscheide und unter der Dusche verschwinde.  Frisch geduscht, sehe ich gleich fitter aus. Ich lächle in den Spiegel, als ich meine Krawatte richte. Ich muss zugeben, dass ich mich in letzter Zeit immer häufiger attraktiv finde.

Damals, da hatte ich große Probleme mit Akne, meine schiefen Zähne waren mit einer scheußlichen Zahnspange bedeckt und dann hatte ich noch so eine schreckliche Brille. Ich war ziemlich unsicher. Aber seitdem ich Kontaktlinsen trage, meine Zähne grade sind und auch meine Haut reiner ist, fühle ich mich wohler in meiner eigenen Haut. Ich weiß selbst, dass ich keiner dieser Modeltypen bin, auf die alle Weiber abfahren, mit Sixpack und scharfen Kiefer. Aber ich mag mich, meistens jedenfalls. Ich hab gelernt hinzunehmen, dass nicht jeder so sein kann und so will ich auch gar nicht sein. Meine schwarzen Haare stehen im starken Kontrast zu meinen blauen Augen, das gefällt mir, und auch andere haben mir darüber schon Komplimente gemacht. 
Noch einmal fahre ich mir durch die Haare, bevor ich nach unten gehe, wo meine Eltern bereits fertig gemacht stehen. Sie müssen gekommen sein, ohne dass ich es bemerkt habe.
Ein sanftes Lächeln liegt auf den Lippen meiner Mutter. "Gut siehst du aus Jim, nun komm, wir sind sonst noch zu spät."

Ich nicke, schlüpfe eilig in meine Schuhe und folge den beiden zum Auto. Ich freue mich meine Geschwister wieder zu sehen. Nur selten treffen wir uns, seitdem alle übers ganze Land verstreut sind und die unterschiedlichsten Arbeitszeiten haben. Am meisten aber freue ich mich auf Valerie, meine älteste Schwester. Sie hat sich vor kurzem verlobt, als sie erfahren hat, dass sie schwanger ist, jetzt bin ich natürlich gespannt den Babybauch und den Ring zu sehen. Und vor allem möchte ich erfahren, wann die Hochzeit stattfindet. Ich wollte schon immer zu einer, was sich bisher aber leider noch nie ergeben hat. 

An einem Hotel, recht außerhalb der Stadt, halten wir. Es liegt idyllisch an einem See. In der sachten Dämmerung, sieht es so paradiesisch aus, wie in den ganzen Reisekatalogen. Leider kann ich hier nicht übernachten, so wie meine Geschwister es tun. 
Ein Kellner begleitet uns zu einem bereits besetzten Tisch. Wir sind die Letzten die gekommen sind. Eilig stehen alle auf. Es dauert eine Weile, bis jeder jeden begrüßen und in die Arme schließen konnte und endlich alle Platz genommen haben.

Die Gespräche überschlagen sich. Während ich Val über ihre Hochzeit ausquetsche bekomme ich mit, wie mein Vater mit Tom über seine Anwaltskanzlei reden, welche er vor kurzem eröffnet hat und wie meine Mutter bei Brandon nachharkt wie es denn bei ihm auf der Arbeit aussehe, ob er schon befördert wurde und ob er endlich eine Freundin hätte. Er tut mir leid, als er alles verneinen muss und einen sowohl besorgten, aber auch tadelnden Blick meiner Mutter erhält.

Sie hatte höhere Erwartungen an ihren ältesten Sohn, das weiß er und das wissen wir.

"Und wie sieht es bei dir aus Jimmy? Schon die große Liebe gefunden? Und hast du dich schon für eine Uni entschieden?" Natoll, dank Valerie liegt nun die ganze Aufmerksamkeit auf mir. Kurz werfe ich ihr einen giftigen Blick zu, wofür ich nur ein Schulterzucken ihrerseits ernte. Auch meine Eltern scheinen höchst interessiert zu sein. Seit Wochen warten sie darauf, dass ich ihnen sage wo ich was studieren werde. Aber ehrlich gesagt, weiß ich das selbst noch nicht. Wenn ich wenigstens wüsste, als was ich später arbeiten möchte. Jedoch habe ich keinen blassen Schimmer. Damals wollte ich immer Arzt werden, aber auch das hat sich verflüchtigt, seitdem mein Notendurchschnitt sowieso nicht dafür ausreichen würde. Ich bin kein schlechter Schüler, aber für mehr als 1,5 reicht es einfach nicht bei mir. Ich reiß mir den Arsch für die Schule auf, aber ich bin nun mal keiner von denen, der die guten Noten nach geschmissen bekommt. Nicht so wie Tom. Er musste nie viel lernen, nie überhaupt viel für die Schule machen und hatte trotzdem kein Problem in Yale angenommen zu werden. 

Unsicher räuspere ich mich und sehe auf meine Finger, die mit der Serviette spielen. "Ich.. Ich bin mir nicht sicher." Kurz wandert mein Blick über die enttäuschten Gesichter meiner Eltern, bevor ich mich schnell ergänze:" Ob ich zu Yale oder Harvard will, beides sind so tolle Universitäten." Oh man wo reite ich mich hier gerade rein?
Aus Enttäuschung wird Stolz, mein Vater legt seinen Arm um mich und klopft mir lobend auf die Schulter. "Das ist mein Sohn."
Nachdem auch mein Bruder und meine Schwester ihre Bewunderung ausgesprochen habe, entschuldige ich mich kurz zur Toilette. Anstatt dahin ab zu biegen, gehe ich gerade aus, nach draußen. Ich brauch dringend frische Luft.

Zusammen mit dem Sonnenuntergang wurde es recht kühl. Ich schließe meine Jacke enger um mich und blicke auf den See. Wie soll ich mich bloß je wieder aus diesem Schlamassel retten? Wieso konnte ich nicht einfach die Wahrheit sagen? 

"Fuck." Ein wütendes Schnaufen verlässt meine Lippen, als ich einen Stein in das Wasser kicke. 

"Du siehst aufgebracht aus." Erschrocken zucke ich bei der fremden Stimme zusammen und blicke zu der Person, die scheinbar aus dem Nichts neben mir erschienen ist. "Auch eine?" Zwischen seinen Lippen steckt eine Zigarette, in der Hand hält eine Schachtel mit weiteren, die er mir entgegen streckt.


Wie die Nacht zum Tag wurdeWhere stories live. Discover now