Erstes Kapitel

17.8K 846 394
                                    

Von Goldmarie und Pechmarie
________________________

Scheiße.

Das ist tatsächlich der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt, als ich seine goldbraunen Locken erblicke, in seine grünen Augen sehe und diese Grübchen erblicke, die sich immer bilden, wenn er herzhaft lacht. Ein Blick und zack, zurück sind das Herzklopfen, die Nervosität und der Drang danach, mich in seiner Nähe aufzuhalten.

Ein Drang, der allerdings nie gestillt werden wird, auch wenn ich es mir sehr wünsche. Er ist eben perfekt. Er ist der ideale Kerl, den man seiner strengen Frau Mama vorstellt, er ist der Typ, mit dem man sonntags in die Kirche geht und er ist genau die Sorte Mann, von der man sich wünscht, es gäbe mehr. Tatsächlich wäre in Sachen Schwiegersohn wohl eher meine Mutter das Problem, die seit einem halben Jahr ihre verlorene Jugend wieder aufrollt und dabei ziemlich durchdreht.

Außerdem wird es nie soweit kommen, dass Oliver Schmidt meine Mutter kennenlernt — jedenfalls nicht als mein Freund. Das liegt einfach daran, dass er zu den coolen Leuten gehört, schlau ist, immer für einen Witz zu haben ist, im Basketballteam spielt und gerne eine Führungsrolle übernimmt — wieso sollte jemand wie er Interesse an jemandem wie mir haben?

Ich kann gar nicht aufzählen, wie oft mich andere Leute als ›komisch‹ betiteln. Ja, vielleicht bin ich komisch, weil ich real bin. Es ist mir egal, was Leute von mir denken, es ist mir egal, was Leute von meinem kratzbürstigen, vielleicht etwas zu morbiden Humor denken, und es ist mir egal, was die Leute um mich herum machen. Ich lebe mein Leben, ich vegetieren, skate ab und zu, aber meistens verkrieche ich mich in meinem Bett, weil ich diesen Lärm der Welt einfach abschalten will.

Keine Ahnung, wie es passieren konnte, dass ich mich in Oliver verknallt habe, aber es hilft mir definitiv nicht, dass ich jetzt hinter ihm sitze und die ganze Zeit seine breiten Schultern und seinen sonnengebräunten Teint vor Augen habe. Vermutlich liegt es einfach daran, dass er genau das ist, was ich gerne wäre. Für die meisten bin ich nämlich die Komische, die immer in der letzten Reihe sitzt und keine Freunde hat.

Eigentlich bin ich zufrieden damit — denn so lässt mich wenigstens jeder in Frieden.

Eigentlich.

Eigentlich ist es höchst verwunderlich, dass Merle und ich beste Freundinnen sind, und das schon seit der Grundschule. Damals hatten wir uns zwar gehasst, aber beginnt nicht jede gute Freundschaft so?

»Fräulein Krause«, reißt mich die zeternde Stimme meines Mathelehrers Herrn Schulte aus den Gedanken. Seitdem ich vor acht Jahren aufs Gymnasium gekommen bin, herrschen gewisse Spannungen zwischen uns. Vielleicht war ich das ein oder andere Mal ein bisschen zu vorlaut und vielleicht gab er mir dafür das ein oder andere Mal eine schlechtere Note. Aber im Großen und Ganzen bin ich gut in Mathe und er ist ein vom Leben müder Mittsechziger, der keine Lust mehr hat, inkompetenten Jugendlichen — tatsächlich nennt er uns so — das Rechnen beizubringen.

Gedankenverloren blicke ich zu dem glatzköpfigen Mann hoch, dessen riesiges, schwarzes Brillengestell seine milchig blauen Augen noch kleiner wirken lässt, als sie es ohnehin schon sind, Auf seiner Glatze tanzen Schweißperlen im Schein des LED-Lichts, das von der Decke strahlt, Walzer.

»Wärst du dann endlich einmal so freundlich, meinem Unterricht zu folgen, oder brauchst du wieder einmal eine Extraeinladung?«, fragt er und verzieht seine Gesichtszüge zu einer säuerlichen Grimasse.

»Wenn Sie schon so fragen...«, setze ich an, doch weil die Ader auf seiner Stirn so stark pocht, dass ich Angst habe, gleich einer Blutdusche zum Opfer zu fallen, zucke ich mit den Schultern. »Natürlich wäre ich so freundlich.«

Fetzen zwischen Gas und Bremse Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt