Kapitel 2

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Die ersten zwei Tage der Woche hatte ich ohne Probleme überstanden. Heute war Mittwoch und das bedeutete, dass ich sie wiedersehen würde. Schon auf dem Weg zur Haltestelle merkte ich, dass ich nervös wurde. Wie sollte das nur die nächsten Monate so weitergehen? Ich hatte keine Ahnung und ärgerte mich selbst über meine Dummheit. Den Kurs bei ihr zu belegen war keine gute Idee. Das wurde mir spätetens jetzt bewusst.

An der Uni angekommen, war ich froh meine Mädels im Getummel der anderen zu erblicken. Die erste Woche bedeutete eben auch Chaos ohne Ende. Jeder suchte Gebäude und Kurse, traf sich mit den anderen, um Kaffee zu trinken und über die Ferien zu quatschen. Nina, Sarah und Caro gingen vor mir und ich versuchte die drei einzuholen.
"Na ihr?", sagte ich, als ich neben Caro herging.
"Wer ist denn da so pünktlich?", fragte Nina mich und schaute mich überrascht an.
"Es ist Semesteranfang, da ist die Motivation noch hoch", gab ich lachend zurück.

Keiner von ihnen konnte ahnen, dass es nur einen einzigen Grund für meine Motivation gab. Gemeinsam gingen wir zu unserem Raum und ich war insgeheim froh, dass ich die Mädels um mich herum hatte. Als wir den Raum betraten, fiel mein Blick sofort auf Frau Michelsen und ich merkte, wie mein Puls anfing zu rasen. Sie lächelte uns freundlich an und ich versuchte ein "Morgen" herauszubekommen. Frau Michelsen saß vorne an ihrem Tisch und sortierte ihre Unterlagen, während der Beamer schon einen Semesterplan an die Wand warf. Sie war vorbereitet und organisiert wie immer. Wir setzten uns in die zweite Reihe und ich nutzte erstmal die Möglichkeit, um Frau Michelsen nach all den Wochen genauer zu betrachten. Sie hatte sich in den letzten Monaten genauso wenig verändert wie wir anderen auch. Ihre dunklen Haare gingen ihr noch immer bis kurz über die Schultern und waren leicht durcheinander. Sie war meistens bloß dezent geschminkt, was ihrem Aussehen allerdings nicht schadete. Am schönsten an ihr anzusehen waren ihre grünen Augen, deren Iris nach außen hin immer dunkler wurden. Generell war an dieser Frau einfach alles schön anzusehen, doch sie war mit Sicherheit keine typische Schönheit. Dennoch strahlte sie für mich etwas aus, was mich mehr als faszinierte. Doch sie schaffte es nicht nur durch ihr Aussehen zu überzeugen, sondern auch mir ihrer meist lockeren und humorvollen Art.

Ich wurde aus meiner Schwärmerei gerissen, als sie das Wort übernahm: "Guten Morgen  zusammen. Ich begrüße Sie recht herzlich zu der heutigen, ersten Sitzung unseres Seminars der Neueren Literatur. Doch bevor wir ins Thema einsteigen und noch ein paar Formalia zu klären haben, würde ich Sie gerne ein wenig kennenlernen. Einige von Ihnen kenne ich schon, aber ich werde versuchen, Ihre Namen so schnell wie möglich zu lernen. Ich würde sagen, wir gehen einfach mal die Reihen durch und Sie stellen sich kurz vor, während ich die Anwesenheit überprüfe." Es waren auch für mich ein paar neue Gesichter dabei, was in diesem Fach eher selten vorkam. So gingen wir Reihe die erste Reihe durch und ich merkte, wie ich nervös wurde und mit meinen Fingern auf die Tischplatte klopfte.

"Frau Mai, machen Sie weiter?", fragte Frau Michelsen und schaute mich an. Meinen Namen hatte sie sich immerhin noch merken können. "Ja, also ich bin Hannah Mai. Ich bin 23 Jahre alt und studiere als zweites Fach noch Geschichte auf Lehramt. Das spiegelt sich auch in meinem Interesse an Literatur, denn ich lese gerne über die europäische Geschichte und den Zweiten Weltkrieg. Oft und gerne auch von internationalen Autoren. Meine Erwartung an diesen Kurs ist, dass wir neue Erkenntnisse über Literatur und das Zusammenspiel von Gesellschaft und Literatur gewinnen können", sagte ich und war ein wenig stolz, dass ich trotz meiner Aufregung ganze Sätze rausgebracht hatte. In ihrer Nähe fühlte ich mich einfach nicht funktionsfähig und benötigte für alles doppelt so viel Konzentration. Frau Michelsen schien mit der Antwort auch zufrieden zu sein und sah mich nickend an.

"Dass Sie neue Erkenntnisse gewinnen, ist auch mein Ziel. Sonst wäre ich wohl überbezahlt", antwortete sie mit einem Grinsen. Das war der perfekte Anblick. Vielleicht fand ich auch einfach ihr Grinsen am schönsten an ihr. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden. Wir gingen die restlichen Reihen durch, bis sich am Ende jeder vorgestellt hatte. Als letztes stellte auch sie sich vor: "Ich bin Anne Michelsen, einige kennen mich wie bereits erwähnt schon. Ich bin jetzt das zweite Semester an dieser Uni und am Lehrstuhl für Neuere und Ältere Literatur tätig. Vor einem Jahr habe ich promoviert und bin daher umso glücklicher, sofort diese Stelle angeboten bekommen zu haben. Zuvor habe ich noch Kunst- und Architekturgeschichte studiert, fand meinen Weg dann jedoch wieder zurück zur Literatur. Bevor ich Sie aber weiter mit Informationen zu meiner Person langweile, schlage ich vor, dass wir die Referate verteilen und ich Ihnen alle weiteren Infos gebe." Gebannt hing ich an ihren Lippen und war über jede Information über sie froh. Wenn sie vor ihrem zweiten Studium schon zumindest einen Bachelorabschluss gemacht hat, dann musste sie vermutlich doch älter sein, als ich dachte. Vor allem, wenn man noch die Jahre dazu zählt, in denen sie an ihrer Dissertation gearbeitet hatte. Ich schätzte sie auf Anfang 30, höchstens jedoch 35. Wir verteilten die Referate, besprachen die Literatur, die wir anschaffen mussten und sie gab uns eine Einleitung in das Thema des Seminars. Die 90 Minuten vergingen viel zu schnell und ich war traurig, nicht weiterhin in ihrer Gegenwart sein zu können.

"Frau Mai, kann ich Sie noch kurz sprechen?", fragte sie, als ich mit den anderne den Raum verlassen wollte. Oh Gott, oh Gott, tief atmen. Ich drehte mich wieder um und ging zu ihr nach vorne. "Tut mir leid, wenn ich Sie aufhalte. Ich wolllte Ihnen nur kurz sagen, dass ich angefangen habe, Ihre Hausarbeit zu lesen. Leider hatte ich über die Ferien so viel zu korrigieren und andere Prüfungen, dass es noch zwei oder drei Wochen dauern kann. Nur als kurze Info, falls Sie schon auf die Note gewartet haben sollten", entschuldigte sie sich bei mir und fuhr sich durch die Haare. Ihre typische Geste, die mein Herz schneller zum schlagen brachte. "Alles klar, kein Problem. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich brauche bloß spätestens in einem Monat eine Rückmeldung von Ihnen, falls ich noch etwas überarbeiten muss", gab ich zurück und versuchte möglichst entspannt rüberzukommen. "Machen Sie sich da mal keine Gedanken, bisher liest sich alles sehr gut", antwortete sie mir und lächelte, als sie ihre Sachen zusammenpackte. Wir verabschiedeten uns und ich ging raus zu den Mädels, die auf mich gewartet hatten. Ich versuchte mein Grinsen zu unterdrücken, doch allein diese kurze Unterhaltung mit ihr hatte meine Laune deutlich angehoben und ich merkte mal wieder, wie sehr ich mich doch in sie verliebt hatte.

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