Erinnern

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Die Schreie hallten noch immer in ihrem Kopf umher, die Gesichter ihrer Geschwister voller Schmerz und Leid. Sie verfolgte sie. Ließen sie nicht los.

Tage lang saß sie nun in dieser Kammer. Alle warteten auf sie, doch sie war nicht fähig zu ihnen zu gehen.

Nicht fähig ihnen in die Augen zu blicken, noch mehr Leid zu sehen, ohne zusammen zu brechen.

Keine Hoffnung zu sehen, kein Licht...

Schwere Schritte rissen sie aus ihrem Delirium.

„Zeit, geliebte Schwester, was können wir tun um dir zu helfen? Um deine Qualen zu lindern?", der Tod trat durch die kleine Tür ihres Zimmer und blieb im Rahmen stehen.

„Wie kann man etwas lindern, was kein Ende hat? Wie soll ich etwas vergessen, was ich nicht vergessen will?", ihre Stimme war heiser.

Rau von der langen Zeit ohne Worte.

Mit langsamen Schritten kam er zu ihr. Kniete sich vor ihren Sessel. Ein einfaches Stück aus geflochtener Weide.

„Was passiert ist, können wir nicht ändern. Selbst du nicht.", er legte seine Hand auf ihre.

Eine Geste um ihr zu zeigen, dass der Schmerz auch in seine Brust wütete, dass sie den Verlust nicht alleine bewältigen musste.

Doch seine Wärme ließ sie erschauern.

„Vergessen ist keine Schande, Zeit.", er drückte ihre Hände leicht.

Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus.

In ihm glühte noch immer die Flamme des Lebens.

Sein Herz schlug, pumpte warmes Blut durch seinen Körper.

Er lebte.

Er spürte.

Dinge, die ihrer Schwester nun auf ewig verwehrt wurden.

„Doch ich will nicht vergessen.", ihre Stimme war ein raues flüstern.

„Ich will nicht vergessen, was ich verloren habe... Was wir verloren haben.", ein Moment des Schweigens folgte.

In ihrem Gesicht veränderte sich etwas. Der Schatten des Leides lichtete sich und etwas anders nahm seinen Platz ein, etwas was er nicht richtig deuten konnte.

"Und irgendwann wird der Schmerz es sein, der mir helfen wird.", in ihrer Stimme schwang ein Tropfen Mut mit.

Er wusste nicht woher er kam, doch es machte ihm Angst.

„Jeder von uns hat seinen eigenen Weg, um mit so etwas umzugehen. Doch Schmerz und Leid sind Gift, Zeit. Sie trüben unseren Geist. Zerfressen unsere Gedanken. Sie machen uns zu etwas, was wir nicht sind."

Jetzt war sie es, die seine Hände drückte.

Eine einfache Geste, die so viel auszudrücken vermag.

Sie dankte ihm für seine Hilfe. Erinnerte ihn jedoch auch daran, dass sie die Entscheidungen für sich selbst traf.

Und sie hatte sich für den Schmerz entschieden.

Langsam ließ sie seine Hände los, stand schwerfällig auf und ging zur Tür.

Ihr Gang war noch etwas wackelig, doch ihre Schritte waren zielgerichtet.

Wie er zuvor, blieb sie nun im Rahmen stehen und guckte ihn an.

Er hatte sich nicht bewegt, kniete noch immer vor dem Sessel aus Weide, doch sein Blick ging nun zum Fenster hinaus.

Der Wald erstreckte sich dort. Eine kleine Idylle.

„Wir sollten uns beeilen. Sie warten auf uns."

Ungewohnte Worte aus ihrem Mund.

„Die Ewigkeit hinterlässt Spuren auf unsere Seele. Schmerz, Leid und Hoffnungslosigkeit sind nur ein paar davon.", er blickte sie noch immer nicht an, „Und irgendwann fordern sie ihren Tribut. Das Vergessen ist der einzige Weg um uns vor ihrem Zoll zu schützen."

Nur das Zwitschern der Vögel füllte die Stille zwischen ihnen aus.

Ihre glücklichen Gesänge hallten durch den Wald.

Eine Verhöhnung in seinen Ohren.

„Irgendwann müssen wir alle bezahlen. Vielleicht schon heute, oder erst in ein paar Jahren. Ich werde nicht vor meiner Strafe fliehen, ich werde sie sogar mit offenen Armen empfangen. Doch erst, wenn meine Pflichten erfüllt sind. Solange werde ich in Schmerzen leben, um mich zu erinnern."

Mit einer ruckartigen Bewegung stand er auf und ging auf sie zu. Blieb neben ihr stehen.

Seinen Mund neben ihrem Ohr, als er flüsterte:

„Doch denk daran, was mit Chaos passiert ist."

Mit diesem Worten verschwand er im Gang, wobei seine Silhouette eins mit den Schatten wurde.

„Doch was ist, wenn der Schmerz alles ist, was mich daran erinnert, wozu ich das tun muss?"

Ihr Flüstern verhallte ungehört.

Das Ende der Unendlichkeit ~ Die Chroniken der fünf GeschwisterWhere stories live. Discover now