Kapitel 24

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POV Sam

Ich träumte in Schwarz-Weiß. Eine seltsame Angewohnheit, doch sie ließ das dunkle Fachwerkhaus noch unheimlicher erscheinen. Das Gebäude war zwischen einer Kirche und einem Mehrfamilienhaus eingequetscht, hoch und schmal wirkte es wie das Hauptquartier eines schlechten Comic-Bösewichts.

Jetzt stand ich wieder davor.

Ich starrte in eine Pfütze vor meinen Füßen und mein dreizehnjähriges Ich starrte zurück. So viel schmaler und blasser, hätte man Bilder von damals in jetzt nebeneinander gehalten, hätte man mich nicht wiedererkannt.

"Hör auf, schon wieder Trübsal zu blasen!" Natalies Stimme neben mir ließ mich aufschauen. Dunkle Locken, olivfarbener Teint, Natalie war eine Schönheit gewesen, schon mit ihren vierzehn Jahren.

"Komm schon!" Sie griff nach meiner Hand und zog mich auf das Haus meiner Albträume zu. "Nata, ich … ich will noch draußen bleiben." Natalie drehte sich zu mir herum und ein gequälter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. "Samma, ich weiß, aber wir müssen."

Samma. So hat mich niemand genannt. Niemand außer ihr.

"Bitte, Nata, nicht lange." Sie schien nachzudenken und nickte schließlich. "Ich sag ihnen, du warst im Kino noch auf dem Klo und hast dann die Bahn verpasst." Natalie umarmte mich. "Sei in zwanzig Minuten da! Ich warte in unserem Zimmer auf dich. Und sei pünktlich, sonst dürfen wir dieses Jahr nicht mehr raus!" Ich nickte.
Natalie drehte sich um und lief zu unserem Zuhause, dem dunklen Waisenhaus auf der anderen Seite des Platzes.

Ich sah ihr nach.

Natalies Eltern hatten sie als Fünfjährige hier abgegeben, weil »wohl höhere Ziele hatten, als gute Eltern zu sein«, wie Nata stets bitter erklärte. Sie hasste ihr Aussehen, da sie »die Haare einer Heuchlerin« und »die Augen eines Feiglings« hatte. Doch sie war selbstbewusst und als ich niemanden hatte, wie es nun einmal in einem Waisenhaus mit mehr als einhundert Kindern war, war Nata dagewesene und war zuerst große Schwester und dann beste Freundin geworden.

Heute hatte wir ein Kino am anderen Ende des Ortes besucht, etwas, worauf wie ein ganzes Jahr gespart hatten, denn in unserem Heim (für nichts auf der Welt hätte ich es ein Zuhause genannt) bekam jedes Kind einen Euro im Monat, um sich ein Eis, ein Softdrink oder einen billigen Lipgloss zu kaufen. Wenn man es jedoch sparte, ließ sich jedoch auch einmal im Jahr etwas größeres finanzieren, so auch unser Besuch von »Ocean's Eleven«.

Warum genau ich nicht in das Heim zurückwollte, wusste ich eigentlich nicht. Doch mein Magen zog sich beim Anblick des dunklen Hauses zusammen.

Ich drehte mich um und ging die Straße herunter, über die wir hierher gekommen waren. Ein Süsswarenladen, ein Frisör, ein Tante Emma-Laden, ein Second-Hand-Laden. Dazwischen Haustüren und Hofeinfahrten. Eine Bushaltestelle. An der nächsten Kreuzung eine weitere. Zwei Straßen weiter gab es eine Grundschule. Die weiterführenden Schulen lagen in der nächsten Kleinstadt und ließen sich nur mit dem Auto oder der S-Bahn erreichen.
Mein Heimatort war trostlos, keine Widerrede. Bevölkert von alteingesessenen, beinahe aussterbenden Familien. Manche Anwärter auf das Bürgermeisteramt warben sogar mit der Schließung des Kinderheims, diesem Schandfleck in der Kultur. Ein Joghurt hätte mehr Kultur gehabt, wenn man ihn so lange stehen gelassen hätte, wie dieser Ort sich schon »Hohenheim« schimpfte.

Ich hasste diesen Ort. Doch er war das einzige in meinem Leben, dass ich vielleicht ansatzweise ein Zuhause nennen würde.
Ich hatte die zweite Bushaltestelle auf diese Straße passiert, und ein Haus weiter befand sich mein Ziel, die Bibliothek.

Ich würde kurz hineingehen, das eine oder andere Buch aus dem Regal ziehen und vielleicht, wenn ich etwas gutes gefunden hatte, zum Tresen gehen und das Buch vom Bibliothekar notieren lassen.

Ich mochte den alten Mann gerne, er sagte fast nie ein Wort, kümmerte sich hinreißend um seine Schätze, verschiedenste Erstausgaben von klassischer Weltliteratur und empfahl mir öfters den einen oder anderen Schmöker, wobei er zielsicher jedes mal meinen Geschmack traf. Dass er nie nach meinem Zuhause oder meiner Herkunft gefragt hatte, machte ihn mir noch sympathischer, auch wenn ich mir nie sicher war, ob das daran lag, dass es ihn schlichtweg nicht interessierte, oder dass es so ersichtlich war, das ich eines dieser Kindern ohne Eltern war.

Ich betrat die Bibliothek und fühlte mich sofort geborgen zwischen all den funktionalen Helden, die wie ich oder noch verkorkster waren. Waisen wie Harry Potter oder Bruce Wayne hatten etwas mit mir gemeinsam, bis auf den kleinen feinen Unterschied, dass ich kein Vermögen hatte, dass ich bei Gringotts oder der Gotham Bank lagern konnte.

"Ich hatte schon gedacht, Sie kommen gar nicht mehr", hörte ich es neben mir. Ich drehte mich zu dem Bibliothekar, der etwa genauso klein wie ich war. Er schob seine Brille ein Stück seine Nase hoch, lächelte mich an und drückte mir ein Buch in die Hand.

Misstrauisch beäugte ich den Titel.

"Illuminati. Sind Sie unter die Verschwörungstheoretiker gegangen?" Der alte Mann lachte leise. "Ich muss Sie leider enttäuschen, ich bin und bleibe ein Verfechter der Wahrheit." Ich lächelte und hob das Buch hoch, dessen Einband eine Gestalt in einer roten Kutte zierte. "Warum dann? Das Buch ist doch schon lange raus, warum zeigen sie es mir erst jetzt?" Der Bibliothekar lächelte geheimnisvoll, drehte sich um und sortierte wieder Neuerscheinungen und Rückgaben in die Regale ein, also ob er das schon seit Stunden tat.

Ich betrachtete ein wenig perplex das Buch in meinen Händen und entschied dann, dass ich es zumindest zur Probe lesen könnte. Ich notierte kurz meinen Namen und den Titel auf der »Entliehen«-Liste und wand mich zum Gehen, besonders darauf bedacht, die Tür leise hinter mir zu schließen.

Bereits im Gehen fing das Buch an, mich zu fesseln, Mord, Totschlag und gewitzte Rätsellösung zählten zu meinen Lieblingsthemen.

Was ich nicht bemerkte, waren Krankenwagen und Polizeiauto, die mit Blaulicht und Martinshorn an mir vorbei rasten. Erst als ich, mit dem Buch unter der Jacke, auf den Platz vor meinem makaberen Zuhause ankam und die Autos mir die Sicht auf die Tür nahmen, beschlich mich ein unheimlicher Verdacht.

Ein Beamter versuchte mich abzuwimmeln, als sei ich eine unliebsame Schaulustige, doch als die Leiterin unseres Heims mich sah, zog die mich dicht an sich heran und  redete unsinnig auf mich ein, Worte wie "… niemand hätte es verhindern können …", "… es ist nicht deine Schuld …" und "… wir wissen nicht, wie er reingelangen konnte …".

Ich verstand nichts von dem, was sie sagte, aber irgendwann musste wohl auch Frau Dodenhoff das bemerkt haben, denn ich starrte sie bloß verständnislos an.

"Weißt du es etwas noch nicht?", fragte sie unsicher. Mein Verlangen, eine patzige Antwort zu geben, wurde nur von der Angst gedämmt, dass etwas schreckliches passiert war und der Ausdruck in Frau Dodenhoffs Augen schien genau das zu bestätigen.

"Liebes, ich … ich … du … es ist … es ist Natalie. Sie, sie ist …" Sie musste nicht weitersprechen.

Durch die offene Tür hinter ihr wurde, mit einem Tuch zwar verdeckt, dich unverkennbar, eine zarte, beinah zerbrechliche und ziemlich leblose Gestalt hinaus getragen.

Sämtliche Luft wich aus meiner Lunge.

Die Erkenntnis, die unleugbare Wahrheit lag vor mir.

Natalie war tot.

FourtasticTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang