Kapitel 5

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Abends liege ich noch lange im Bett, bevor ich auch nur ansatzweise ein Auge zu machen kann. Robert schläft schon und schnarcht vor sich hin. Ich kann nur noch an meine Schwester denken - so will ich sie ab sofort nur noch betrachten. Mir fällt es einfach schwer, dass sie uns nicht genug vertraut hat, reinen Tisch zu machen. Sie war schon immer schwierig. Total in sich gekehrt und hatte dadurch auch nie wirklich Freunde.

Ich erinnere mich an Melinda, mit der sie lange gut befreundet war. Allerdings hatten die beiden da gerade das Alter, als sie dafür ausgelacht wurden, dass Jungs und Mädchen doch keine Freunde sein könnten. Als sie dann auch noch einen Freund hatte, musste mein Bruder weichen. Ich fand das damals sehr schlimm und hoffte immer, dass Melinda zurückkehren würde. Vergeblich.
Hinzu kam, dass mein Bruder nur zockte. Dadurch hatte er ein paar wenige Freunde, mit denen er sich dafür traf. Diese Freunde waren aber nicht gerade der beste Umgang. Simon war als Kiffer bekannt und machte seiner alleinerziehenden Mutter nur Probleme. Für mich war das immer schwer nachvollziehbar, denn wenn er mit seinem Spongebob Schwammkopf Videospiel immer vor der Tür stand und leicht lächelte, sah er eher wie ein kleiner, schüchterner Junge aus, als ein Bastard - wie ihn seine Mutter nannte. Seine Freundschaft, besser gesagt Anwesenheit, war mir jedoch lieber als keine. Also sagte ich unseren Eltern auch nichts darüber, was ich über Simon wusste. Ich holte David auch gerne bei ihm ab, der Grund war aber nicht nur, dass meine Eltern Simons Mutter so wenig wie möglich trafen, sondern, weil ich es wirklich gern tat. Sozialer Kontakt ist nunmal wichtig. Das Gefühl niemanden zu haben, hatte ich selbst über Jahre. Ich hatte zwar viele Schulfreunde und war beliebt, ich wurde jedoch nie irgendwo eingeladen. Das änderte sich erst, als ich um die 17 war. Dieses Schicksal wollte ich keinem zumuten.

Mit meinem Smartphone stöbere ich noch sämtliche Promi-Magazine durch, da das Thema Transgender gerade heiß diskutiert wird wegen Caitlyn Jenner und diversen anderen Promis. Ich sehe mir die Kommentare an und bin ein wenig geschockt, welch fiese Kommentare zu sehen sind.

Der will sich doch nur wichtig machen.
Der wird nie ne echte Frau sein.
Was man nicht alles für Aufmerksamkeit tut.

Was erlauben sich diese Menschen, über andere zu urteilen? Ich würde mir wünschen, dass sie nur einen Tag im Körper eines nicht geouteten Menschen (egal ob transident, homosexuell oder sonst was) stecken würden, nur um den Schmerz und die innere Zerrissenheit am eigenen Leibe spüren zu müssen. Ob sie dann immernoch so denken würden?

Ein paar positive Kommentare stechen mir dann doch ins Auge und ich entschließe mich, einen Kommentar zu verfassen. Die Anonymität hilft mir, meine größten Sorgen aus meinem Kopf zu jagen. Ich erschaffe den Nutzernamen EinGebrochenesHerz und schreibe mir alles von der Seele. Ich kann den Schmerz nicht unterdrücken, obwohl ich ja eigentlich nur Außenstehende bin und nicht die betroffene Person selbst. Meine Wangen beginnen zu glühen und eine Träne nach der anderen kullert hinab. Leise schluchzend, damit Robert auf keinen Fall aufwacht, lege ich mein Handy zur Seite und schließe die Augen, bevor der Schlaf mich endlich überrollt.

****
Am nächsten Morgen fühle ich mich beschissen. Mein Schädel dröhnt, während sich meine Beine schwer wie Blei anfühlen, als würde ich krank werden. Seit langem habe ich nicht mehr so unruhig geschlafen. Robert ist schon auf dem Weg zur Schule. Ich kleide mich an und verziehe mich leise ins Bad, um noch ein paar Augenblicke für mich zu haben, bevor Anna mich hört und aus dem Bett gekrochen kommt.

Allerdings wird mir mein Wunsch nicht allzu lange gewährt, denn Anna hat wirklich gute Ohren. Ich vermute, sie besitzt einen winzigen Sender in ihrem zierlichen Körper, der sofort eine Warnung an ihr Gehirn sendet, dass ich wach bin. Anders kann ich es mir nicht erklären, als sie nur zwei Monaten nach mir im Bad erscheint. Ich sitze am Rand der Badewanne und putze mir die Zähne. Mit ihren kleinen Fäusten reibt sie sich fleißig die Augen, aber der Schlaf will einfach nicht verschwinden. Ich mache uns beide fertig, so dass wir zügig nach einem kurzen Frühstück in den Garten können. Ein wenig Gartenarbeit wird mich ablenken und außerdem hat er es mal wieder bitter nötig.

Anna lutscht noch immer an ihrer Brezel herum und matscht zwischendurch mit ihren Händen in der Erde rum. Normalerweise würde ich sie ermahnen, heute jedoch habe ich keine Kraft dafür. Ich fühle mich ausgelaugt, als wäre mein Körper nur eine lose Hülle ohne Inhalt.

Meine Gedanken kreisen noch immer um meinen Bruder. Obwohl ich mir geschworen hatte, keinerlei Vorwürfe mehr zu erheben, lässt mich der Gedanke dennoch nicht los. Warum? Warum ausgerechnet mein Bruder? Eine Person, die eh schon immer sehr sensibel war? Ich verstehe es nicht. Ist das die Rache von Gott, weil ich meinen Bruder anfangs hasste, weil er kein Mädchen wurde? Trage ich die Schuld?

Als mein Bruder meine Schwester wurde - und ich ein besserer MenschWhere stories live. Discover now