Kapitel 3

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17.04.1993

Ich blinzle mit den Augen, aber die Sonne blendet mich mit voller Wucht, obwohl das Bett, in dem ich liege, in der hintersten Ecke des Zimmers steht. Es nervt mich tierisch. Wer kann so denn schlafen? Ich stehe auf und ziehe den Vorhang ein wenig zu, so dass die Sonnenstrahlen direkt vor dem Bett aufhören. Meine Cousine schläft wie ein Murmeltier. Ich verbringe jedes Wochenende bei ihr und es ist immer dasselbe. Sie macht nie die Rolläden zu, in der Früh werde ich davon wach, während sie sogar tief schlafen könnte, wenn die Sonne direkt über ihrem Kopf schweben würde. Ich lege mich ins Bett, um kurz darauf wieder aufzustehen, weil ich nicht mehr schlafen kann. Darum schnappe ich mir meine Jeans und den Pulli von gestern, ziehe mich an und suche nach meinem Buch, das ich aber nicht finden kann.

Ich öffne die Türe vorsichtig, obwohl ich nicht weiß warum, da wir eh alleine in der Wohnung sind und ihre Mutter wahrscheinlich schon unten in ihrem Geschäft ist. Ich laufe ins Badezimmer und betrachte mich im Spiegel. Meine braunen Haare sind vom Schlafen noch zersaust, aber sobald ich sie gekämmt habe, fallen sie gerade nach unten bis zur Schulter. Ich putze mir die Zähne und stelle den Hocker wieder zur Seite, den ich benötige, um überhaupt in den Spiegel schauen zu können.

Ein Geräusch erweckt meine Aufmerksamkeit. Ich schleiche hinaus und will erkunden, woher das Geräusch kommt. Mein Blick fällt auf den Koffer vor der Haustüre. Meinen Koffer. Das Geräusch kommt näher und ich erkenne, dass es meine Tante ist, die eine Papiertüte vom Bäcker in der einen Hand hält und mit der anderen darin herum kramt, als suche sie etwas bestimmtes.

"Guten Morgen", sage ich vorsichtig, da ich nicht möchte, dass sie erschrickt.
"Guten Morgen", sie sieht mich kurz an und kramt wieder in der Tüte herum. "Gut, dass du schon wach bist. Deine Mutter ist im Krankenhaus, das Baby ist da."
Meine Augen werden größer. "Das Baby ist da? Was ist es?"

Seit Monaten frage ich mich, was es wohl wird, ein Mädchen oder ein Junge? Ich möchte unbedingt eine Schwester, während Thorsten unbedingt einen Bruder zum Spielen haben möchte. Aber unsere Eltern verraten es uns nicht, obwohl sie es schon früh erfahren haben. Aus diesem Grund mussten wir uns sowohl Mädchen-, als auch Jungennamen überlegen. Als ob es nicht schon schwer genug wäre, einen Namen für ein Geschlecht zu finden. Naja, finden ist schon schwierig, aber sich dann auf diesen Namen zu einigen, ist noch schwieriger. Das haben mir die letzten Monate oft genug bewiesen.

Meine Tante betrachtet mich und schüttelt den Kopf. "Deine Mutter hat gesagt, dass ich es dir nicht sagen darf. Ich bringe dich heute Nachmittag hin und dann erfährst du es."

"Wo ist Thorsten?", frage ich sie stattdessen.
"Der ist bei seinem Paten", antwortet sie mir und nickt mit dem Kopf. "Komm mit, lass uns frühstücken." Sie läuft in die Küche und ein gedeckter Tisch wartet schon auf uns. Ich suche mir ein Croissant aus und beiße genüßlich hinein.

Meine Gedanken kreisen jedoch nur noch um das Baby. Bitte, bitte lass es ein Mädchen sein, flehe ich zu Gott. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es so ist. Gott würde mir das nicht antun, mich mit zwei Brüdern zu bestrafen. Niemals. So ungerecht kann das Leben nicht sein. Vielleicht hätte ich doch öfters in die Kirche gehen sollen.

Umso später es wird, desto nervöser werde ich. Einige Kunden im Laden meiner Tante haben mir schon gratuliert, was mich nur noch hibbeliger gemacht hat. Tina, meine Cousine, malt gerade mit der Kreide den ganzen Hof voll, ich überlege noch, ob ich ihr helfen soll. Richtig Lust darauf habe ich jedoch nicht. Trotzdem springe ich auf, schnappe mir die weiße Kreide und male ein Hüpfspiel auf.
"Super Idee", sagt Tina und hilft mir, in dem sie die Zahlen einmalt. Wir suchen nach einem Steinchen und beginnen dann abwechselnd zu hüpfen. Das lenkt zumindest ein wenig ab, denke ich mir und betrachte Tina, wie sie über den Kasten mit dem Steinchen springt. Als ich an der Reihe bin, kommt mein Onkel auf uns zu.

"Herzlichen Glückwünsch, große Schwester. Jetzt hast du zwei Brüder", er strahlt wie ein Honigkuchenpferd, aber nachdem ich seine Worte verarbeitet habe, entweicht mir sämtliche Farbe im Gesicht.
"Was? Ein Bruder?", frage ich ihn beinahe flüsternd. Ich fange zu weinen an. Meine Hände beginnern zu zittern und ich balle sie zu fäusten. Ein Kloß macht sich in meiner Kehle breit. Ich bekomme keine Luft mehr, starre ihn geschockt an. Als er begreift was geschieht, kniet er sich vor mich und legt mir tröstend seine Hände auf die Schultern. "Du wusstest es nicht? Das ist doch kein Weltuntergang." Ich schüttle den Kopf und, obwohl ich kaum etwas sehen kann, renne ich davon. Jetzt weiß ich, dass Mama Recht hatte: Gott gibt es nicht.




Als mein Bruder meine Schwester wurde - und ich ein besserer MenschWhere stories live. Discover now