Kapitel 2

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Ich spüre, dass Marlene mir für den Rest des Tages aus dem Weg geht, was mir aber nur gelegen kommt. Lediglich einmal steht sie in meiner Tür, klopft kurz mit den Fingern wieder am Türstock, hört aber abrupt auf, als ich meinen Kopf in ihre Richtung hebe. Ihr Mund öffnet und schließt sich, aber ihre Worte kommen nicht in meinen Ohren an. Ich nicke einfach, so dass sie mich endlich wieder in Ruhe lässt. Sie tut es mir gleich und lächelt zögerlich, als sie die Tür wieder schließt. Ich möchte einfach nur noch nach Hause.

Ich vergrabe meinen Kopf in meinen Händen, die auf dem Tisch ruhen, und nutze die Gelegenheit, um mich auszuruhen. Nur um auf dem Bildschirm zu starren, ob es endlich Richtung sechszehn Uhr geht, hebe ich meinen Kopf. Aber die Zeit scheint still zu stehen. Heute würde ich nicht eine Minute zu spät das Büro verlassen. Nicht mal Schokokuchen könnte mich daran hindern.

Ich betrete überpünktlich den Kindergarten. Eine Schar kleiner Kinder kommt mir schon entgegen und einer nach dem anderen fängt an zu schreien: "Anna abgeholt!" Ich hasse diesen Satz. Warum verbessert keiner diese kleinen Kröten? Es ist nicht so, als würde ich kleine Kinder hassen, immerhin habe ich selbst eine dreijährige Tochter, aber sie gehen mir meistens ziemlich auf die Nerven.

Ich höre ein Quieken und falle beinahe um, als ich Anna schon an meinem Bein spüre. Ihre kleinen Ärmchen und Beinchen halten es fest umschlungen und lassen keinen Schritt mehr zu.
"Hallo Prinzessin, na wie wars heute?"
Sie lässt nun mein Bein endlich los und streckt mir ihre Arme entgegen. Ich nehme sie hoch und drücke sie fest an mich. Meine Finger gleiten durch ihr zersaustes Haar und ich pflanze zärtlich ein Küsschen auf ihre Stirn.
"Ich will nach Hause", ist alles was sie sagt. Wir holen ihre Sachen und verabschieden uns von den Erzieherinnen.

Ich habe keine Ahnung wann David bei mir auftauchen wird, daher lenke ich mich mit Hausarbeit ab, sobald Anna in ihrem Zimmer verschwindet, um ihrem Malbuch Aufkleber zu verpassen.

David war schon immer ziemlich ruhig und kein Mann der vielen Worte, daher weiß ich auch sicher, dass er einfach vor der Tür stehen wird. Wie immer, oder sollte ich eher sagen selten? Uns trennen acht Jahre, und ich glaube, dass das der Grund ist, warum wir nie einen wirklichen Draht zueinander gefunden haben. In jungen Jahren habe ich viel auf ihn aufgepasst, aber so richtige Geschwister waren wir nie. Erst als er anfing vor einigen Jahren seine Ausbildung bei uns im Betrieb anzufangen, wurde es ein wenig besser, aber auch nicht so richtig. Es war, als würde er mich hassen. Aber das erscheint mir eine Spur zu hart. Meine Gedanken reißen ab, als es an der Tür klingelt und David vor der Türe steht. Ich blicke ihm ängstlich entgegen.

"Hi!" Er kommt herein und ich nehme ihm seine Jacke ab, hänge sie schnell auf. Er blickt mich nur kurz an und wartet darauf, dass ich vor gehe.
"Hi, schön, dass du schon da bist!" Mehr fällt mir in diesem Moment nicht ein. Ich mache mich sofort los und gehe eilig ins Wohnzimmer, während David mir wie ein Entenküken folgt. Ich spüre sofort, wie ich nervös werde. Meine Nerven flattern, aber ich will auf keinen Fall, dass er bemerkt, wie nervös ich bin. Obwohl es dafür wahrscheinlich schon zu spät ist.

Er setzt sich auf seinen Stammplatz, knautscht Annas Frozen-Kissen und betrachtet es, als würde er jedes einzelne Detail studieren.
"Wo ist Anna?" David sieht mich nun direkt an, hält das Kissen aber weiterhin fest in seinen Händen.
"In ihrem Zimmer spielen." Ich nestle nervös an meinem Pullover, als ob ich kleine Fusseln daran hätte, und schnippe die imaginären Fussel Richtung Boden. "Also, was ist los? Warum warst du heute beim Psychologen?" Ich frage ihn direkt, da es mich brennend interessiert, was los ist - und die Ungewissheit mich innerlich auffrisst.
"Kann Anna uns hören?" Er schielt in Richtung Türe.
"Nein, warum?"
"Es ist kompliziert. Ich will nicht, dass sie es hört und im Kindergarten oder irgendwem sagt."
Ich spüre einen Kloß in meinem Hals und versuche, meine Stimme zu kräftigen. Ich widme mich wieder meinen Fusseln. Das lenkt mich ein wenig ab und ich komme mir nicht so hilflos vor.
Seine Stirn bildet eine Falte, als er weiterspricht: "Ich will auch nicht, dass du es Robert sagst." Was kann es schon geben, das Robert nicht erfahren darf?
"Aber Robert lebt hier, egal was es ist, er wird es doch eh erfahren", sprudelt es aus mir heraus.
"Versprich mir einfach, dass du es ihm nicht sagen wirst. Du bist doch meine Schwester?" Seine Worte klingen wie ein Flehen und mir wird bewusst, dass ich dieses Versprechen halten werde, egal was kommen mag.
"Du kannst dich auf mich Verlassen!"
Er blickt noch einmal zur Tür, aber nachdem sie immer noch verschlossen ist, und keiner sie öffnet, atmet er aus.
"Also, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Ich weiß wirklich nicht wie." Er zuckt mit den Schultern und ich kann eine Träne erkennen, die er sofort mit seinem Ärmel wegwischt. Ich lehne mich nach vorne, um die Distanz zwischen uns zu verringern und lege ihm eine Hand aufs Knie. Er zuckt nicht zurück, wie er es sonst immer tut.
"Wirst du sterben?" Die Worte weichen endlich aus meinem Mund und als David mich vor Schock anstarrt, brechen die Tränen aus mir heraus. Ich hatte es den ganzen Tag befürchtet. Das konnte einfach nicht wahr sein. Warum er? Er ist doch noch so jung?
"Jein", er lächelt für einen winzigen Moment und ich sehe ihn perplex an.
"Was bedeutet jein?" Ich greife nach den Taschentüchern unter dem Tisch und nachdem ich mir eines genommen habe, um die Tränen wegzuwischen und meine Nase zu putzen, reiche ich David die Packung. Er schüttelt jedoch den Kopf.
"Du wirst bald nur noch einen Bruder haben!" Seine Worte hallen in meinem Kopf wider und wider. Er legt nun das Kissen zur Seite und sieht mir direkt ins Gesicht. "David wird es bald nicht mehr geben."
Seine Worte geben mir den letzten Stoß und ich falle. Ich spüre, wie ich in eine schwarze Leere falle, ein schwarzes Loch, so groß wie das Universum, ohne eine Chance, daraus zu entkommen. Das darf einfach nicht wahr sein! Ich spüre, wie die Wut in mir steigt und versucht, einen Ausgang zu finden. Ich reiße mich wirklich zusammen, um nicht sofort laut loszukreischen oder etwas zu zerstören. Die Vase meiner Schwiegermutter zieht sofort meinen Blick wie einen Magneten an. Ich schüttle den Kopf, in der Hoffnung, dass ich diesen Gedanken sofort wieder vergessen kann.
"Hast du Krebs? Wie lange hast du noch?" Ich schlucke.
"Was?" David sieht mich geschockt an. "Von was redest du?"
"Du bist krank und wirst bald sterben. Also frage ich dich, welchen Krebs du hast." Ich kann icht glauben, dass er mir nicht zugehört hat.

Er nimmt meine Hand, zum allerersten Mal in meinem Leben, und sieht mich verloren an.
"Es ist total simpel: erst gibt es die Larven, dann die Raupen. Und schließlich den Schmetterling", er wendet den Blick von mir, bevor er schluckt. "Und dann gibt es mich: ich bin die zerdrückte Larve."
"Was meinst du damit?" Ich drücke seine Hand nun fester, in der Hoffnung, dass er endlich klare Worte findet, die mein Gehirn verabeiten kann. Er sieht mir nun tief in die Augen, als ob er abschätzen möchte, ob ich ihm folgen kann.
"Du musst dich nur noch mit einem Bruder rum schlagen - aber dafür bekommst du eine Schwester."


Als mein Bruder meine Schwester wurde - und ich ein besserer MenschWhere stories live. Discover now