Ein Schritt in die richtige Richtung

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Mit großen, schwungvollen Schritten näherten wir uns dem Startpunkt des Stechens. Unsere Mitschüler drehten am Rand der Bahn noch ein paar Schrittrunden, jedoch hatten die meisten von ihnen uns genau im Blick. Am liebsten hätte ich das Stechen abgesagt, aber dann hätte ich mich wahrscheinlich vor meinen Mitschülern rechtfertigen müssen und Playboy war zwar bereits nass geschwitzt, aber dennoch schien er Spaß am Rennen und noch genug Kraft zu haben.
Giulio und ich positionierten unsere Pferde schweigend nebeneinander am Startpunkt. Eigentlich wollte ich nichts sagen, aber kurz bevor Herr Rudolfs das Signal gab, konnte ich mich dann doch nicht mehr zurück halten. ,,Giulio?", ich konnte ihm nicht in die Augen schauen, aber ich merkte, wie er seinen Kopf in meine Richtung drehte. ,,Können wir später mal reden", meine Stimme klang unsicherer als ich befürchtet hatte. ,,Was soll das bringen, Lilli?", Giulio lachte abfällig. Nun sah ich ihn doch an. ,,Ich weiß es nicht. Aber ich will nicht dauernd ein schlechtes Gewissen haben, weil es dir nicht gut geht und das womöglich meine Schuld ist", nun klang ich wieder sicherer. ,,Du bist mir nichts schuldig", entgegnete er. Ich verdrehte genervt die Augen. Er wusste ganz genau wie ich mich fühlte. ,,Weißt du was, dann lassen wir es einfach", zischte ich.
Als das Startsignal ertönte galoppierte Playboy sofort los. Da wir nur eine Seite entlang reiten mussten, lies ich ihn direkt in Höchstgeschwindigkeit laufen. Giulio war mit seinem Pferd direkt neben uns, doch ich wollte ihn auf keinen Fall gewinnen lassen. Kurz vor der Ziellinie trieb ich Playboy noch einmal richtig vorwärts. An der Seite hörte ich, wie die meisten meiner Mitschüler meinen Namen riefen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht und völlig durchgeschwitzt überquerten Playboy und ich als erstes die Ziellinie.

,,Du warst super", um meinen Sieg zu feiern hatte Anna sich ausnahmsweise mal ein paar Minuten von Jonas lösen können. Wir mussten unsere Pferde noch ein wenig über die Bahn führen, als wir abgesattelt hatten, um den Kreislauf zu schonen und sie nicht komplett durchnässt in den Hänger zu stellen. Vinc entdeckte ich auf der anderen Seite der Bahn zusammen mit Jonas und Kim. ,,Die klebt ganz schön an ihm, seit ihr nicht mehr zusammen seid", stellte Anna fest, die anscheinend bemerkt hatte, dass ich zu ihnen herüber geschaut hatte. Ich zuckte nur mit den Achseln. ,,Mir Solls recht sein", meinte ich und richtete meinen Blick starr geradeaus. ,,Und ist es dir das auch ?" ,,Was?", Annas Frage überraschte mich. ,,Du sagtest es soll dir egal sein. Aber ist es dir auch egal?" Ich verdrehte die Augen. ,,Lass das, Anna. Hör auf, so genau auf meine Wortwahl zu achten. Natürlich ist es mir egal. Wir haben Schluss gemacht. Vinc kann machen was er will und mit wem er will", meinte ich und beinahe hatte ich mich selbst davon überzeugt. ,,Es tut mir Leid, aber ich versuche nur meinen Job als deine beste Freundin so gut wie möglich zu machen", Anna lachte. ,,Ach ja? Deshalb hängst du auch 24 Stunden am Tag mit Jonas herum und lässt mich im Bus zwischen meinem Exfreund und einem Typen, der mich zu hassen scheint, sitzen?", jetzt musste ich auch lachen. In diesem Moment bemerkte ich Giulio, der anscheinend genau hinter uns gegangen war und alles gehört hatte. Er rauschte nun mit finsterem Blick an uns vorbei und ich sah Anna hilfesuchend an. ,,Naja, mehr als hassen kann er dich ja nicht", meinte Anna schulterzuckend und schien den Ernst der Lage überhaupt nicht zu erkennen.
Auf der Rückfahrt setzte sich Anna glücklicherweise neben mich. Jonas, Vinc und Kim machten sich ganz hinten im Bus breit und von Giulio fehlte mal wieder jede Spur. So langsam begann ich mich zu fragen, warum es mir so viel ausmachte, dass wir einfach nicht auf einen Nenner kamen und warum ich immer wieder nach ihm Ausschau hielt.

,,Bis morgen, Playboy. Das hast du sehr gut gemacht", verabschiedete ich mich von meinen Wallach, als ich ihn in seine Box zurückgebracht und versorgt hatte. ,,Kommst du mit rüber, oder brauchst du noch?", rief mir Anna von der Box ihrer Stute aus zu. ,,Ich muss noch die Sachen wegräumen. Du kannst ruhig schon vorgehen, ich komm dann gleich nach!", antwortete ich ihr. ,,Alles klar, wir treffen uns im Aufenthaltsraum, okay?", und mit diesen Worten verschwand sie nach draußen. Ich verriegelte die Box hinter mir, raffte so viele Sachen wie ich tragen konnte zusammen und lief hinüber zur Sattelkammer. Dort angekommen verstaute ich alles provisorisch in meinem Spind, als ich plötzlich ein Schniefen hörte. Ich hielt in meiner Bewegung inne und lauschte. Doch es war nichts mehr zu hören. Also lief ich wieder los, um die restlichen Sachen zu holen. Ich wollte endlich fertig werden, damit ich zurück ins Wohnhaus und mit meinen Freunden zu Abend essen konnte. Doch als ich die Sattelkammer ein zweites Mal fast erreicht hatte, hörte ich schon wieder dieses seltsame Geräusch. Diesmal blieb ich vor dem Raum stehen und lauschte. Es klang, als würde jemand leise weinen. Ich verstaute schnell meinen Kram im Spind, dann lief ich weiter nach hinten in die Sattelkammer, von wo ich das Geräusch erahnte. Und tatsächlich, auf dem Boden zusammengekauert und den Kopf zwischen den Knien saß Giulio. Seine Schultern bebten. ,,Giulio?", fragte ich leise, woraufhin er zusammenzuckte, sich hektisch über das Gesicht wischte und dann in die mir entgegengesetzte Richtung starrte. ,,Was willst du?", fragte er. Seine Stimme klang rau, als hätte er schon lange geweint. ,,Weinst du?", wollte ich wissen, ohne auf seine Frage zu antworten. Doch er gab ebenfalls keine Antwort. Einen Moment lang stand ich etwas unbeholfen neben ihm, doch schließlich ließ ich mich neben ihm auf dem Boden nieder, rückte ganz nah an ihn heran und stupste seine Schulter mit meiner an, um ihn ein klein wenig aufzumuntern. ,,Was ist los mit dir?", fragte ich leise. Eine Zeit lang schwieg er und ich war schon kurz davor, aufzustehen und zum Wohnhaus hinüber zu laufen, wo Anna sicher schon wartete, als er plötzlich zu reden begann. ,,Es tut mir leid, dass ich mich dir gegenüber wie ein Idiot verhalten habe", langsam drehte er seinen Kopf ein Stückchen mehr in meine Richtung. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, deshalb blieb ich still und wartete ab. ,,Mir geht es einfach nur ziemlich beschissen. Mit dir ging es mir irgendwie besser, aber du willst ja nichts von mir wissen und rennst immer noch Vinc hinterher. Ich dachte es wäre leichter, dich zu verachten, als Zeit mit dir zu verbringen und am Ende doch feststellen zu müssen, dass du mich niemals so mögen wirst, wie ich dich". Die Worte kamen einfach plötzlich aus ihm herausgesprudelt und irgendwie warfen sie mich völlig aus der Bahn. Ich brauchte einen Moment, bevor ich antworten konnte. ,,Also erstens renne ich niemandem hinterher, erst recht nicht Vinc", entgegnete ich schließlich. ,,Und zweitens ist deine Theorie völliger Schwachsinn. Ich hab dich echt gern, Giulio und wenn du dich nicht immer wie ein Arsch Verhalten würdest, kämen wir bestimmt gut klar." Ein paar Augenblicke herrschte wieder schweigen zwischen uns. ,,Außerdem solltest du vielleicht einfach mal anfangen, über deine Probleme zu reden, als alles in dich reinzufressen und schlechte Laune zu verbreiten", rutschte es mir plötzlich heraus. Nun sah er mich überrascht an. ,,Tut mir leid, das... wollte ich eigentlich nicht sagen", ich sah zu Boden. ,,Nein, vielleicht hast du echt Recht", meinte Giulio zu meiner Überraschung.
,,Lilli! Wie lange brauchst du bitte, um ein paar Sachen wegzuräumen?", hörte ich plötzlich Anna von der Stallgasse her rufen. ,,Treffen wir uns später noch im Aufenthaltsraum? Dann können wir weiter reden?", fragte ich Giulio schnell und sah ihn entschuldigend an. Er nickte und Lächelte sogar ein bisschen. ,,Geh nur", sagte er und ich sprang auf und lief Anna entgegen, bevor sie uns gemeinsam in der Sattelkammer entdeckte.

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