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Fyre

Rhia betrachtet einen Punkt in der Ecke meines Zimmers, aber als ich hereinkomme, blickt sie verschreckt auf.

Einen Moment lang blitzt in ihren Augen Widerwille auf, Verachtung. Sie reckt überheblich das Kinn nach vorne und will etwas sagen, besinnt sich aber sofort wieder, erinnert sich daran, wer da vor ihr steht, und blickt unterwürfig zu Boden.

Unwillkürlich frage ich mich, ob ich mir das ablehnende Funkeln nur eingebildet habe.

Allerdings kann mir das vollkommen egal sein. Rhia ist meine Dienerin, sonst nichts. Sie hat mir zu gehorchen – wen interessiert schon, ob sie mich mag?

»Hast du meine Kleider eingepackt?«, frage ich sie schroff.

»Natürlich«, antwortet sie mit ihrer leisen, verängstigten Stimme. Manchmal erinnert sie mich an ein Reh, was nicht an ihren braunen Augen oder den dunkelblonden, ihr Gesicht verdeckenden Haaren liegt. Sie ist scheu wie das so gern gejagte Rotwild – eine falsche Bemerkung und sie ist sofort auf der Flucht.

Nur dass man mir nicht entfliehen kann – sie ist der perfekte Nachmittagssnack für meinen Hunger nach Gemeinheiten.

Herrisch stolziere ich durch mein luxuriös eingerichtetes Zimmer zu meinem Bett und werfe mich darauf – aber auf eine elegante Art und Weise. Die schwarze Seide raschelt, als ich mein Kissen nehme und nach dem Schlüssel darunter greife. Ich drehe mich so, dass Rhia ihn nicht sehen kann, und stecke ihn mir in den Ausschnitt. Was die meisten Männer nicht wissen – der Ausschnitt einer Frau ist besser als jede Handtasche.

Ich stehe auf und bemerke, dass Rhia mir immer noch tatenlos zusieht.

»Bücher? Schmuck? Ladegeräte? Steh nicht so faul herum, pack gefälligst!«, schnauze ich sie an.

Schüchtern geht sie durchs Zimmer und steckt scheinbar wahllos Sachen in meine Tasche. Na ja, ich habe genug Platz, also was soll's.

Ich drehe mich um und trete ans Fenster. Eisblumen gedeihen an der kalten Glasscheibe. Die Nacht hat einen Sturm mit sich gebracht. Schnee und Eis, soweit das Auge reicht – wundervoll, meine Welt. Wenn es nach mir ginge, würde sich der Frühling eindeutig noch etwas verzögern.

Plötzlich bemerke ich am Rand des Fensters einen rötlichen Schimmer. Ich befreie mithilfe meines manikürten, aber nicht lackierten Daumen die Stelle vom Eis, doch als ich genauer hinsehe, ist der Schimmer verschwunden. An seiner Stelle entdecke ich eine tiefe, dreispurige Krallenspur.

»Blutdämonen, auch Kyriaki genannt, waren es«, spuken wie auf Knopfdruck die Gerüchte durch meinen Kopf: »An ihren Opfern bestanden die einzigen Verletzungen aus tiefen, dreigliedrigen Krallenspuren.«

Ich habe keine Ahnung, wie diese Male an meine Fensterscheibe gekommen sind.

Ist auch nicht wichtig.

Wichtig ist, was sie bei mir auslösen.

Ich muss raus hier. Jetzt. Sofort.

»Hör nicht auf«, befehle ich Rhia, die erstaunt aufsieht, als ich aus dem Raum stürme.

Hat man mir meine Bestürzung angesehen? Wird sie es weitererzählen? Wird bald die gesamte Dienerschaft über meinen Ausbruch tuscheln? Wird mein Verhalten bleibende Schäden auf meinem gut polierten, schlechten Ruf hinterlassen? Ich habe sie alle so lange glauben lassen, dass mein Inneres nicht verletzbar wäre, dass ich kalt und unantastbar wie das ewige Eis bin...

Egal. Alles ist egal, bis auf diese Flut von Bildern, Gedanken, Gefühlen in meinem Bewusstsein, die ich verzweifelt loszuwerden, zu verdrängen versuche. Die ich loswerden, die ich verdrängen muss.

Es gibt nur einen Ort, der mir das ermöglichen kann.

Ungewöhnlich schnell bewege ich mich durch die Flure des Winterpalastes, das Ziel immer klarer vor meinen Augen.

Ich werde die Gedanken auslöschen.

Zum Glück ist kein einziger Elf auf den Gängen unterwegs. Um diese Uhrzeit ist das vorauszusehen – doch ich weiß nicht, ob ich mich stoppen könnte, selbst wenn ich mich durch Massen kämpfen müsste. In einer Stunde wird die Sonne aufgehen, in drei Stunden werde ich abreisen – unwichtig. Ich muss das hier hinter mich bringen.

Unerwartet höre ich feste Schritte, die sich in meine Richtung bewegen. Verflucht.

Es gibt keinen anderen Weg, ich kann nicht ausweichen, ich darf mein Ziel nicht aus den Augen lassen.

Hastig sehe ich nach unten und werfe die glatten schwarzen Haare nach vorne. Vielleicht wird mich der Frühaufsteher nicht erkennen, glauben, ich sei nur eine einfache Dienstbotin, die für ihre egozentrische Herrin volle Batterien oder Ähnliches besorgen muss.

Die andere Person ist jetzt auf demselben Gang wie ich. Ich lasse meine Augen fest auf den weißen Marmorfußboden gerichtet, taste visuell Vertiefungen im Mosaik ab, als würde der Boden mir jeden Moment den Sinn des Lebens verraten.

Als die Person direkt an mir vorbeigehen will, tue ich etwas sehr, sehr Dummes.

Ich kann es nicht entschuldigen – ich bin vielleicht sehr durch den Wind und so, aber ich habe keine Ahnung, welche Macht, welcher Impuls mich in diesem Augenblick lenkt und dazu zwingt, nach vorne zu schauen, in das Gesicht der vorbeilaufenden Person.

Der Blick aus einem Paar unendlich tiefer, braungrüner Augen trifft mich wie ein Blitzschlag.

Meine Eispanzer sind längst gänzlich geschmolzen und so kann ich nicht verhindern, dass er mein schutzloses, innerstes Wesen offen betrachten kann.

Für einen Augenblick bleibt die Zeit stehen.

In ihm kann ich Verwirrung und Erstaunen lesen. Und dann, als Reaktion auf mich, Sorge, eine Art erwachender Beschützerinstinkt und ... Zärtlichkeit?

Instinktiv frage ich mich, was er wohl in meinen Augen sieht, das ihn so fühlen lässt.

Sieht er die Angst? Das Chaos? Den Schmerz?

Ich will es eigentlich gar nicht wissen.

Denn wenn ich es wüsste, müsste ich mich damit auseinandersetzen.

Ehrlich gesagt will ich nichts lieber, als mich an seine Brust zu werfen und das olivfarbene Shirt, welches ich an ihm damals immer so unvorstellbar attraktiv fand, voll zu heulen. Sieht er, wie ich leide?

Unbewusst bleibt Ciel stehen und gibt ein irritiertes, ich würde beinahe sagen, besorgtes »Fyre?« von sich.

Dadurch endet der Moment, ich zucke zusammen und eile weiter.

Den ganzen Weg über, bis der Gang sich gabelt, spüre ich seine Blicke im Rücken. Jeder Schritt fühlt sich an wie eine Ewigkeit.

Ciel ist ein Problem, aber mit ihm werde ich mich später befassen.

Jetzt gilt nur noch eins:

Vergessen.

SnowFyre. Elfe aus EisTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon